Berlin - Das westliche Verteidigungsbündnis, gegründet 1949, war für manche Kritiker noch vor wenigen Jahren ein „Auslaufmodell“, ein Relikt aus der längst vergangenen Zeit des Kalten Krieges. Bis zum 24. Februar 2022. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Bedeutung der Nato neu definiert. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach schon wenige Tage nach Kriegsbeginn von einer „Zeitenwende“. Das sieht nicht nur Deutschland so.

Auf dem Nato-Gipfel im Juni 2022 in Madrid beschlossen die Mitglieder ein neues strategisches Konzept. Darin heißt es: „Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum.“

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Grafik: Die Nato-Staaten

Die damals 30 Mitgliedstaaten beschlossen, die Zahl der Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40 000 auf 300 000 zu erhöhen. Außerdem werden mehr schwere Waffen vor allem ins Baltikum und nach Polen verlegt. „Der Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine hat den Frieden in Europa erschüttert und die größte Sicherheitskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst», sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Auch Deutschland liefert militärische Unterstützung

Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn hatte die Nato weitreichende militärische Unterstützung für die Ukraine beschlossen. Deutschland beteiligt sich ebenfalls daran, auch wenn der deutschen Regierung anfangs von der Ukraine zu zögerliches Verhalten vorgeworfen wurde. Spätestens seit der Zusage von Leopard-2-Kampfpanzern hat sich das aber geändert.

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Grafik: Deutsche Militärhilfe für die Ukraine

Deutschland gehört inzwischen zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine – sowohl militärisch als auch finanziell. Seit Kriegsbeginn genehmigte die Regierung in Berlin Waffenlieferungen im Wert von 2,75 Milliarden Euro. Noch einmal 2,7 Milliarden wurden zugesagt. Unter anderem sollen 20 weitere Marder-Schützenpanzer, 30 Leopard-1-Panzer und vier Flugabwehrsysteme Iris-T SLM von der deutschen Rüstungsindustrie bereitgestellt werden.

Zustand der deutschen Armee teilweise desolat

Über viele Jahre haben Politiker und Militärexperten den Zustand der deutschen Bundeswehr als „desolat“ und „marode“ kritisiert. Die Streitkräfte seien seit dem Ende der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 kaputtgespart worden. Wenige Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine zog die deutsche Wehrbeauftragte Eva Högl – sie vertritt die Interessen der deutschen Soldaten – eine verheerende Bilanz. Mängel und materielle Defizite bei den Einsätzen im Ausland seien „alarmierend“. Die Einsatzbereitschaft von Großgerät wie Kampfpanzern und Hubschraubern betrage teilweise nur knapp 50 Prozent. Die von Kanzler Scholz versprochenen zusätzlichen 100 Milliarden Euro für das Militär erforderten vor allem weniger Bürokratie und vereinfachte Verfahren, hieß es im März 2022.

Ein Jahr später hat sich wenig geändert. Die Wehrbeauftragte kritisiert in ihrem neuen Bericht den schleppenden Start der „Zeitenwende“ und sagt:  «Die Bundeswehr hat von allem zu wenig. Und sie hat seit dem 24. Februar 2022 noch weniger». Von dem versprochenen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro sei 2022 „noch kein Euro und kein Cent ausgegeben“.

Zwei-Prozent-Ziel in weiter Ferne

Diese schleppenden Fortschritte zeigen sich auch darin, dass Deutschland immer noch weit entfernt ist vom Zwei-Prozent-Ziel. 2014 hatte die Nato vereinbart, die Militärausgaben der Mitgliedsländer bis 2024 auf mindestens zwei Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Nach Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo wird die deutsche Regierung im laufenden Jahr 64 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben. Das entspräche etwa 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung. Zum Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels wären zusätzliche 17 Milliarden nötig. In keinem anderen Land gebe es eine derart große Milliardenlücke zwischen Versprechen und tatsächlichen Ausgaben.

Wichtiges Thema in Vilnius

Die Finanzen werden auf dem Gipfel in Vilnius wichtiges Thema sein. Zum Großteil wird die Nato von den USA finanziert, die laut Ifo 818 Milliarden der gesamten Bündnisausgaben von 1,2 Billionen Euro bezahlen. Deutschland steht beim Verfehlen des Zwei-Prozent-Zieles allerdings nicht allein. Nur 12 von 31 Mitgliedstaaten haben das Versprechen von 2014 bisher eingehalten.

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Grafik: Der Verteidigungshaushalt Deutschlands seit 2012

Gemessen an der Wirtschaftsleistung belegen die USA Platz 2 bei den Militärausgaben, Deutschland liegt auf Rang 17. An erster Stelle liegt laut Ifo mittlerweile Polen, das 4,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgibt und damit 17 Milliarden Euro mehr, als es das Land eigentlich müsste. Das Zwei-Prozent-Ziel halten demnach vor allem Länder in der Nachbarschaft Russlands ein, mehrere Staaten haben ihre Militärausgaben nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stark erhöht.

Gipfel soll neues Hilfspaket beschließen

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet eine Einigung der Bündnispartner auf ein neues Unterstützungsprogramm für die Ukraine. Stoltenberg geht davon aus, dass beim Gipfel der Allianz in Litauen ein langfristiger Plan vereinbart wird, wie er bei einem Treffen der Nato-Außenminister in Oslo sagte. Ziel müsse es sein, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine nachhaltig zu stärken. Stoltenberg hofft weiter auf einen baldigen Beitritt Schwedens, der bislang aber von der Türkei und Ungarn blockiert wurde. Finnland ist dagegen seit April 2023 Nato-Mitglied. Beide Staaten hatten im Juni 2022 einen gemeinsamen Beitrittsantrag gestellt.

Was wird aus dem Nato-Beitritt der Ukraine?

Die Hoffnungen der Ukraine auf eine konkrete Nato-Beitrittsperspektive könnten allerdings enttäuscht werden. Zuletzt haben nach dpa-Informationen die USA und Deutschland hinter verschlossenen Türen deutlich gemacht, dass sie vorerst keine Zusagen machen wollen, die substanziell über eine vage Nato-Erklärung aus dem Jahr 2006 hinausgehen. Die Ukraine erwartet dagegen konkrete Angebote. Eine Nato-Mitgliedschaft sei „kein Problem, sondern ein Vorteil“ für die Militärallianz. Immerhin soll in Vilnius ein neues Format für die Zusammenarbeit beschlossen werden. Dies soll es ermöglichen, mit der Ukraine auf Augenhöhe Schlüsselfragen der Sicherheit zu diskutieren und auch gemeinsam Entscheidungen zu treffen.

Dieser Artikel wurde von dpa-Custom Content im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts der sechs am European Data News Hub beteiligten Agenturen erstellt.

Die Agenturen haben zusammen an einer Recherche gearbeitet, die sich mit der Reaktion der Nato-Länder auf Russlands Angriff auf die Ukraine befasst. Zum Nato-Gipfel im Juli in Vilnius hat jede Agentur ihren eigenen Artikel produziert.

Sehen Sie die Geschichten, die wir für den European Data News Hub produziert haben:

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 "excerpt": "Es ist zweifellos eines der wichtigsten politischen Treffen im Jahr 2023. Am 11. und 12. Juli kommen Staats- und Regierungschefs der 31 Nato-Länder in der litauischen Hauptstadt Vilnius zusammen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitspolitik der Nato und auch Deutschlands verändert. Aber wie geht es weiter? Kontroversen sind absehbar, etwa über eine künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.",
 "creationDate": "2023-07-03",
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