Frans Timmermans erzählt gerne von seinen Kindern, zum Beispiel diese Geschichte: Als er mit seiner jüngsten Tochter zum ersten Mal von seiner niederländischen Heimatstadt Heerlen ins nahe Aachen radelte, kamen sie an alten Weltkriegs-Panzersperren vorbei. «Hier ist die Grenze», erklärte Timmermans der Achtjährigen. Die aber fragte: «Papa, was ist eine Grenze?»

Die Anekdote erwähnte Timmermans schon bei seiner Bewerbung als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten im Oktober. Beim Parteitag in Lissabon am Samstag, wo ihn seine Parteifreunde dann wirklich zum Spitzenmann für die Europawahl 2019 kürten, schloss er seine Rede damit. Ein friedliches Europa ohne Grenzen - «ist das nicht ein wunderbares Geschenk?», fragte Timmermans.

Der 57-Jährige will nicht nur seine fast überall in Europa geschwächten Sozialdemokraten zu neuer Stärke führen und nationalistischen Populisten die Stirn bieten. Er gibt sich auch fest entschlossen, nach der Europawahl im Mai neuer Präsident der EU-Kommission zu werden. Im Wahlkampf wird er der große Rivale von CSU-Vizechef Manfred Weber, der für die Europäische Volkspartei ins Rennen zieht und ebenfalls den scheidenden Kommissionschef Jean-Claude Juncker beerben will.

Plastikstrohhalme und Rechstaatsverfahren gegen Polen

Die beiden Kandidaten sind sehr unterschiedlich, zumindest auf den ersten Blick. Anders als der 45-jährige Weber hat Timmermans Erfahrung in vielen Spitzenämtern. Er war niederländischer Diplomat, Abgeordneter, Europa- und Außenminister und ist seit 2014 unter Juncker erster Vizepräsident der EU-Kommission, jener mächtigen Behörde, die für die Europäische Union Gesetze vorschlägt und die Einhaltung überwacht.

Dort ist er unter anderem für Nachhaltigkeit zuständig und profilierte sich mit einem Plan gegen Plastikstrohhalme und Wegwerfgeschirr. Vor allem aber kümmerte er sich um das heikle Thema des Rechtsstaatsverfahrens gegen Polen und verwies immer wieder auf die Gefahren, die er als Folge der Justizreformen der rechtsnationalen Regierung in Warschau sieht. Die warf dem Sozialdemokraten daraufhin Parteilichkeit vor, was Timmermans aber nicht weiter schreckte. In Lissabon bekräftigte er, die Regierenden in Warschau nicht vom Haken zu lassen: «Ich werde das polnische Volk nie im Stich lassen in ihrem Kampf für Demokratie.»

Timmermans wuchs nicht nur in Heerlen auf, sondern zog als Sohn eines niederländischen Diplomaten auch durch halb Europa. Er lebte in Paris, Brüssel und Rom. Später studierte er französische Literatur- und Sprachwissenschaft in den Niederlanden und im französischen Nancy Europarecht, Politik und französische Literaturwissenschaften. Als Diplomat war er unter anderem in Moskau. Er spricht sieben Sprachen fließend, darunter Deutsch und Russisch. Anders als Weber, der neben seiner Muttersprache nur Englisch spricht.

Weber und Timmermanns in verschiedenen Welten

Auch politisch leben beide in verschiedenen Welten. Weber pocht sehr auf Sicherheit, Schutz der Außengrenzen und dauerhafte Lösungen gegen illegale Migration. Timmermans hingegen erklärt das Soziale zur Schicksalsfrage für Europa. «Bei der Sozialfrage müssen wir wirklich nachlegen, da haben wir wirklich eine Riesenaufgabe», sagte er in Lissabon. Zu viele Europäer fühlten sich abgehängt. Wenn man nicht gemeinsam eine Lösung finde, «dann wird Europa scheitern, dann werden sich die Leute von Europa abwenden, das darf uns nicht passieren».

Das verbindet beide Kandidaten dann doch: Beide versuchen, sich im echten Leben zu erden. Weber betont seine Wurzeln im dörflichen Niederbayern, weit weg von Brüssel und nahe bei den Menschen. Genau wie Timmermans, der seine Bewerbung im Oktober zum allgemeinen Erstaunen ohne Direktübertragung und Brimborium vor ein paar Dutzend Leuten in Heerlen bekanntgab. «Hier gehöre ich hin», sagte er. «Nicht ins (Kommissionsgebäude) Berlaymont.» Als Brüsseler Eurokrat will in Zeiten populistischer Breitseiten gegen die EU niemand gelten.

Timmermans, der in zweiter Ehe verheiratet ist und insgesamt vier Kinder hat, wirkt damit zumindest für seine Anhänger glaubhaft. Die nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Frankreich und anderen EU-Ländern aufgeriebenen Sozialdemokraten schöpfen gerade wieder Mut. In Lissabon riss er seine Zuhörer von den Sitzen, obwohl Timmermans selbst eher zurückhaltend und bescheiden wirkte.

Sozialdemokraten in Umfragen zuletzt schwach

«Das ist ein charakterstarker Mensch, ein toller Typ, der geradeaus redet, der nicht lügt, der zur Sozialdemokratie passt und sie grandios verkörpert mit ihren Werten», sagt auch der deutsche Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament, Udo Bullmann.

Die Sozialdemokraten kamen europaweit 2014 auf rund 25,4 Prozent. In den Umfragen vor der Wahl im Mai liegen sie nur noch bei 20. Die EVP dürfte dagegen wieder stärkste Partei werden und Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten erheben. Doch Bullmann träumt von einer Allianz progressiver Parteien mit Grünen, Liberalen und Linken, die Timmermans zum Sieg tragen könnte. Er sei optimistisch, behauptet der deutsche Sozialdemokrat.

Von Verena Schmitt-Roschmann

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