Freies Reisen, offene Grenzen - dieses europäische Versprechen ist in Zeiten von Covid-19 weitgehend ausgehebelt. Dabei feiert der kontrollfreie Schengenraum dieser Tage Geburtstag: 25 Jahre ist es her, dass in sieben europäischen Staaten die Grenzkontrollen wegfielen. Über ein Jubiläum in bewegten Zeiten.

Am 26. März 1995 fielen die Schlagbäume zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Portugal und Spanien. Für viele Europäer bedeutete das ungeahnte Freiheit. Plötzlich konnten sie von Lissabon über Madrid und Paris nach Berlin reisen - ohne ihren Ausweis vorzulegen. Für die Jüngeren ist das heute eine Selbstverständlichkeit.

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Die Mitgliedsstaaten des Schengener Abkommens

Jahrelang wuchs der Schengenraum, benannt nach einer kleinen Gemeinde in Luxemburg am Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich. 20 weitere Staaten haben sich mittlerweile angeschlossen, darunter auch Nicht-EU-Länder wie die Schweiz oder Norwegen. Zuletzt kam 2011 Liechtenstein hinzu. Alle haben gemeinsame Standards für den Außengrenzschutz und das Schengener Informationssystem im Kampf gegen Kriminalität gegründet. Weitere Länder wie Kroatien klopfen an der Tür.

Große Flüchtlingsbewegung 2015/2016

Dabei hat Schengen schon heftige Krisen durchgemacht. Die wohl größte kam mit der großen Flüchtlingsbewegung 2015/2016. Sechs Staaten führten zur Hochzeit der Flüchtlingskrise Grenzkontrollen ein; Deutschland am 13. September 2015, zunächst mit der Begründung des großen Anstiegs Asylsuchender.

Mittlerweile argumentiert Deutschland mit unzureichendem Schutz der EU-Außengrenzen sowie damit, dass viele Asylbewerber von einem EU-Staat in den nächsten zögen. «Bis der Schutz der EU-Außengrenzen effektiv funktioniert, sind Binnengrenzkontrollen vertretbar», heißt es im Koalitionsvertrag. Zu welchem Zeitpunkt das sein wird, machen CDU, CSU und SPD nicht klar, wie Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik kritisiert. Deshalb komme die Formulierung einer Einladung gleich, die Kontrollen immer wieder zu verlängern.

Dabei waren diese Bossong zufolge schon vor der Coronakrise kaum mehr mit dem Schengen-Kodex vereinbar. Dieser sieht nur eine «zeitweise» Wiedereinführung von Grenzkontrollen vor. Der ehemalige EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos warnte schon vor Jahren: «Wenn Schengen stirbt, stirbt Europa.»

Mega-Staus an deutsch-polnischer Grenze

Die Aussicht auf ein Ende der Kontrollen war zuletzt dennoch nicht erkennbar. Der französische Präsident Emmanuel Macron, dessen Land im Herbst 2015 ebenfalls Grenzkontrollen eingeführt hat, brachte stattdessen ins Spiel, den Schengenraum notfalls zu verkleinern. Dies sollte in Erwägung gezogen werden, wenn sich nicht alle Länder an gemeinsame Standards hielten, etwa beim Außengrenzschutz.

In Zeiten der Corona-Krise hat sich all das erstmal erledigt. Mehr als zehn europäische Länder kontrollieren mittlerweile ihre gesamten oder Teile ihrer Binnengrenzen - von Deutschland über Polen, Tschechien, Estland, Spanien, Österreich bis zur Schweiz. An der deutschen Grenze zu Polen bildeten sich mitunter Megastaus von 60 Kilometer. Helfer sprachen von einer «humanitär bedenklichen Situation», die Menschen mussten teils 20 Stunden warten.

Deutschland kontrolliert seit Montag 08.00 Uhr an den Grenzen zu Österreich, Dänemark, Frankreich, Luxemburg und der Schweiz. «Für Reisende ohne triftigen Reisegrund gilt, dass sie nicht mehr einreisen können», sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer. Schengen ade! Aber bis wann? Oder für immer?

Einreiseverbot für die meisten Nicht-EU-Bürger

Diese Aussetzung von Schengen wollte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eigentlich verhindern - und scheiterte. Um die Kontrollen im Inneren überflüssig zu machen, schlug sie vor, Europa solle sich nach Außen stärker abschotten. Die EU-Staaten verständigten sich diese Woche zwar auf ein Einreiseverbot für die meisten Nicht-EU-Bürger, die Binnenkontrollen lockerten sie aber nicht.

Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht infolge dieser neu eingeführten Grenzkontrollen zwei mögliche Gefahren. Erstens: Sollte die Krise anhalten, könnten die Kontrollen immer wieder verlängert werden. Den Schengenraum gäbe es de facto nicht mehr. «Dann steht der gesamte europäische Binnenmarkt auf dem Spiel.»

In diesem Fall wäre der wirtschaftliche Schaden allerdings zu groß, glaubt Bossong. Deshalb befürchtet er ein anderes Szenario und fragt: «Was ist der Preis für die Freizügigkeit im Inneren?» Seiner Meinung nach könnte Europa sich weiter nach Außen abschotten. Die ersten Opfer seien irreguläre Migranten. Schon jetzt habe Griechenland das Asylrecht ausgesetzt. «Das könnte sich verfestigen.»

Die Grünen Co-Chefin Annalena Baerbock warnt: «Wir haben in den vergangenen Jahren erfahren, dass keine der großen Errungenschaften der Einigung in Europa mehr selbstverständlich ist.» Natürlich sei es in Zeiten der Krise sinnvoll, den Reiseverkehr zu stoppen. Aber die ewig langen Staus zeigten auch, «auf was wir verzichten müssten, wenn wir den Schengenraum nicht hätten». Für Baerbock steht fest: «Frei reisen, frei handeln, sich frei bewegen, das gehört zur Stärke Europas.»

Von Michel Winde

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