Es ist ein Hilfeschrei, der niemanden mehr in Hektik zu versetzen scheint: «Wir brauchen jetzt einen Hafen!» Doch wieder benötigten die europäischen Staaten annähernd zwei Wochen, um über die Aufnahme von 47 Migranten zu «feilschen», wie es der Sprecher der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch, Ruben Neugebauer, nennt.

Die Retter sind desillusioniert. Im vergangenen Jahr starben im Durchschnitt sechs Menschen am Tag bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, wie aus einem neuen Bericht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) hervorgeht. Doch die Helfer sollen nicht eingreifen. Wenn sie trotzdem retten, sitzen sie auf dem Meer in der Nähe der italienischen oder maltesischen Küste fest - und die Migranten mit ihnen. Viele von ihnen sind krank, fast alle traumatisiert. Das Land ist in Sichtweite, aber unerreichbar.

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Diagramm: Zahlen aus dem UNHCR-Jahresbericht

«Die Hilfsorganisationen leisten einen lebenswichtigen Dienst», sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi am Mittwoch in Brüssel. Nicht jeder sieht das so: Italiens Innenminister Matteo Salvini würde das Schiff der Deutschen am liebsten an die Kette legen. Er ist das Gesicht der rigorosen Anti-Migrations-Politik Italiens und sein Credo: «Weniger Abfahrten, weniger Tote.» Aus Salvinis Sicht sorgt die Präsenz der Hilfsorganisationen dafür, dass mehr Menschen in Libyen ablegen.

Ein Toter auf 14 Ankömmlinge

Doch Grandi erklärt die Todesrate, die sich 2018 im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifacht hat, mit den fehlenden Rettungskapazitäten im Mittelmeer. Während 2017 ein Migrant auf 38 Ankömmlinge auf See umkam, war es im vergangenen Jahr ein Toter auf 14 Ankömmlinge. In absoluten Zahlen kamen aber weniger Menschen ums Leben: Während 2017 UNHCR zufolge 3139 Menschen starben, waren es im vergangenen Jahr mindestens 2275. Weniger Menschen wagten die Überfahrt - aber die, die es tun, setzten sich größeren Gefahren aus. 2017 habe seine Organisation noch mit durchschnittlich zehn Rettungsschiffen kalkuliert, heute seien es nur noch zwei, sagte Grandi.

Auch Deutschland schickt vorerst keine Marine-Schiffe mehr aufs Mittelmeer. Die Bundesregierung setzte die Beteiligung an der Anti-Schleuser-Mission Sophia bis auf Weiteres aus. Das italienische Kommando schicke die Marine-Schiffe ohnehin nicht dorthin, wo Migrantenboote unterwegs seien, hieß es zur Begründung. Denn wenn die Militärschiffe auf Flüchtlingsboote treffen, dann müssen sie nach dem Seerecht auch helfen – und das hieß in der Vergangenheit oft genug, Migranten nach Europa bringen. Das will Rom offenbar vermeiden, solange es keine dauerhafte Vereinbarung zur Flüchtlingsübernahme mit anderen EU-Staaten gibt.

An der Aufnahme von Migranten, die es mit Hilfe etwa privater Seenotretter bis nach Malta geschafft haben, beteiligt sich die Bundesregierung indes durchaus. Blanko-Zusagen gibt es zwar nicht. Solange aber auch andere EU-Staaten Migranten übernehmen, hilft auch Deutschland von Fall zu Fall aus, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betont.

Keine Einigung auf Verteilmechanismus

Doch für private Seenotretter wird es immer schwieriger, ihre Einsätze zu fahren. Für den Fall der «Sea-Watch 3» gab es am Mittwoch nach der Rettung am 19. Januar zwar eine Lösung, weil sich mehrere Länder, darunter Deutschland, zur Aufnahme von Menschen bereit erklärt hatten. Doch die EU-Staaten können sich einfach nicht auf einen Verteilmechanismus einigen, der weitere Blockaden der Rettungsschiffe verhindern würde - und tragen den Streit auf dem Rücken der Migranten aus, so der Vorwurf. Östliche EU-Länder wie Ungarn und Polen weigern sich grundsätzlich, einer verpflichtenden Quote zur Verteilung von Flüchtlingen zuzustimmen.

«Ich will nicht glauben, dass die Sachen in Europa so laufen müssen», sagte der Kapitän der «Sea-Watch 3», Jeroen Peters, der italienischen Tageszeitung «La Stampa». Und Grandi sagte: «Es ist ein Wettbewerb der Länder, möglichst keine Menschen aufzunehmen. Es ist also ein negatives Rennen, es ist ein Anti-Solidaritäts-Rennen, das die Regierungen aus politischen Gründen führen.»

Die Debatte sei sehr schwierig geworden, sagte Grandi. «Das Ausnutzen der Ängste europäischer Gesellschaften beim Thema Flüchtlinge und Migranten hat es Regierungen sehr schwer gemacht, mit dem Thema umzugehen.» Mit kurzfristigen Erfolgen rechnet er nicht: Er hoffe, dass es nach der Europawahl im Mai konkrete Ergebnisse gebe. «Die europäische Migrationsdiskussion kann nicht immer nur um das nächste Boot gehen.»

Ankunftszahlen sind drastisch gesunken

Dabei müssen die Länder nur noch wenige Migranten unter sich aufteilen - wie auch der Fall von Sea-Watch zeigt. «139 000 ankommende Menschen (in einem Jahr) in Europa sind handhabbar», sagte Grandi. Die Ankunftszahlen sind 2018 auch drastisch gesunken, weil viele Menschen direkt nach Libyen zurückgeschickt werden. Nach Angaben von UNHCR liegt der Anteil bei 85 Prozent.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch werfen der EU vor, zur Misshandlung von Migranten in dem Bürgerkriegsland beizutragen. Die Unterstützung der dortigen Küstenwache durch die EU und vor allem Italien trage erheblich dazu bei, dass Migranten abgefangen und anschließend unrechtmäßig und misshandelt in Haft säßen, hieß es zuletzt.

Die Schmuggler seien längst dabei, sich auf die neuen Umstände einzustellen und dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht abgefangen werden, berichtet UNHCR. Sie setzen die Migranten auf robustere Boote mit mehr Benzin und Satelliten-Telefonen, damit sie selbstständig die Küsten Europas oder wenigstens die dortigen Rettungszonen erreichen. Doch je länger die Reise, desto größer die Gefahr.

Von Lena Klimkeit und Michel Winde

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