London/Brüssel - Der 30. März 2019 könnte einer der chaotischsten Tage in der Nachkriegsgeschichte Europas werden - falls Großbritannien ohne Abkommen aus der EU austritt. Dass es dazu kommt, galt lange als nahezu ausgeschlossen, doch inzwischen wird die Zeit knapp. Am Montag sind es nur noch 200 Tage bis zum Brexit, und noch immer sind die Verhandlungen in Brüssel völlig verkantet. Ohne Einigung fiele die schon ins Auge gefasste Übergangsfrist bis Ende 2020 aber aus. Es träte ein Ernstfall ein, der direkt oder indirekt Millionen Menschen träfe.

So wird mit kilometerlangen Staus zu beiden Seiten des Ärmelkanals gerechnet, den täglich rund 11 500 Lastwagen queren. Nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO müssten sie kontrolliert und teils mit erheblichen Zollabgaben belegt werden. An den Flughäfen auf beiden Seiten müssten wohl schlimmstenfalls in großem Stil Verbindungen gestrichen werden, weil die rechtliche Grundlage für den grenzüberschreitenden Flugbetrieb über Nacht wegfiele - es sei denn, man vereinbart doch irgendeine Notfallregelung.

Britischen Krankenhäusern könnte der Vorrat an wichtigen Medikamenten ausgehen. In den Supermärkten würden die Preise in die Höhe schießen, manche Regale würden ganz leer bleiben. Menschen in ganz Europa könnten Schwierigkeiten haben, ihre private Renten ausgezahlt zu bekommen, ebenfalls weil die rechtliche Grundlage wegbräche. Der Verband britischer Versicherer warnte bereits vor «erheblichen Unannehmlichkeiten für Millionen Rentner, Reisende und Autofahrer».

Zwischen Bluff und Pokerspiel

Aber lässt es die Politik wirklich so weit kommen? Oder dient das Schreckensszenario nur als Kulisse für einen Bluff, damit die andere Seite einknickt? Die Brexit-Unterhändler senden konsequent gemischte Signale. Man tue alles für einen Deal, sagt EU-Vertreter Michel Barnier immer wieder, aber: «Wir müssen vorbereitet sein.» Und zwar auf alle Szenarien. Das sei kein Pokerspiel, betonte Barnier Deutschlandfunk. «Der Brexit ist kein Spiel, er ist viel zu ernst.»

Die EU-Seite hat es sich lange in der Vorstellung gemütlich gemacht, die Folgen eines ungeordneten Brexits wären für Großbritannien weit schlimmer als für den Rest der Gemeinschaft, die auch künftig eine formidable Wirtschaftsmacht mit rund 450 Millionen Konsumenten bleibt. Aber ein No-Deal hätte es sich auch für Bürger und Unternehmen in der EU in sich.

So hat auch die EU-Kommission inzwischen rund 70 Papiere mit Warnungen über mögliche Brexit-Folgen und Mahnungen zur Vorbereitung veröffentlicht. Durchdekliniert werden alle erdenklichen Erschwernisse von der Ausstrahlung britischer Fernsehsendungen über die Vermarktung von Mineralwasser bis zum Reisen mit Haustieren.

Auch politisch wäre ein abruptes Ausscheiden der Briten ohne Vertrag für die EU eine Katastrophe. Zum einen könnte das eintreten, was man seit Monaten am Verhandlungstisch mit aller Macht vermeiden will: Irland müsste wohl an seiner Grenze zum britischen Nordirland Kontrollen einführen, um Zölle zu erheben und ungeregelte Importe zu verhindern. Grenzposten könnten jedoch zu den gefürchteten politischen Spannungen auf der irischen Insel führen, die nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 zusammengewachsen ist.

Auch bei einem No-Deal-Brexit weiter Speck-Tomaten-Sandwich

Zum anderen könnte ein Scheitern der Austrittsverhandlungen auch bedeuten, dass völlig unvermittelt ein Milliardenloch im EU-Haushalt klafft, das dann wohl andere EU-Länder wie Deutschland decken müssten. Denn die von London in Aussicht gestellten gut 40 Milliarden Euro Abschlusszahlungen fielen dann wohl flach. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger räumt ein, dass schon 2019 neun Milliarden Euro fehlen würden. Bei einem harten Bruch gäbe es «auf der ganzen Welt kein Gericht, bei dem ich mein Geld einklagen könnte», sagte er diese Woche bei einer Veranstaltung in Brüssel. Aber darüber denke er jetzt nicht nach: «Ich bin Optimist.»

Nur keine Panik, lautet auch das Mantra auf britischer Seite. Die Leute könnten auch bei einem No-Deal-Brexit weiter ihr Speck-Tomaten-Sandwich genießen, versicherte Brexit-Minister Dominic Raab. Spekulationen über den Einsatz der Armee zur Sicherung der Lebensmittelversorgung, wies er zurück. Premierministerin Theresa May meint, ein Brexit ohne Abkommen sei «nicht das Ende der Welt». Auch die britische Regierung veröffentlicht nun Papiere mit Tipps zur Vorbereitung auf den Ernstfall und zeigt sich erstaunlich flexibel. Um negative Konsequenzen eines No-Brexit-Deals so gut wie möglich abzufedern, würde London zum Beispiel womöglich einseitig auf Kontrollen verzichten oder günstige Regelungen zulassen, etwa beim Thema Bleiberecht für EU-Bürger in Großbritannien.

Doch vieles lässt sich eben nicht einseitig oder auf die Schnelle regeln. Unsicherheit und Durcheinander für Bürger und Wirtschaft blieben in jedem Fall - und einige absurde Konsequenzen. So dürften auf Zigarettenpackungen in Großbritannien künftig nicht mehr die abschreckenden Schock-Fotos zu Gesundheitsgefahren erscheinen, weil die Urheberrechte bei der EU-Kommission liegen. Zudem könnte der Nachschub von Samenspenden stocken: Knapp die Hälfte der britischen Importe kommen aus Dänemark.

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