«Wir kämpfen bis zum Schluss, egal, ob es Tage, Wochen oder Monate dauert», sagt Maria Kolesnikowa in Minsk. Die 38-Jährige ist eines der Gesichter der neuen Demokratiebewegung in Belarus (Weißrussland). Als Kulturmanagerin hat sie lange vom beschaulichen Stuttgart aus künstlerische Projekte gemanagt. Seit einigen Monaten führt sie in Minsk den Stab des Präsidentenbewerbers Viktor Babariko. Doch bevor die Wahlkampagne richtig starten konnte, ließ der als «letzter Diktator Europas» verschriene Machthaber Alexander Lukaschenko den Ex-Bankenchef einsperren - wie viele seiner Gegner. Kolesnikowa sitzt im gerade gegründeten siebenköpfigen Präsidium des Koordinierungsrates der Zivilgesellschaft für demokratische Reformen.

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Belarus: Karte und Länderinfo

In Räumen wie in einer Fabrikhalle arbeitet die Opposition um Babariko von einem Einkaufs- und Geschäftszentrum aus. «Machttransfer durch Dialog ist unser Ziel - ohne Gewalt. Und wir unterstützen natürlich auch die Proteste im ganzen Land», sagt Kolesnikowa, die bei der Präsidentenwahl die Kandidatin Swetlana Tichanowskaja unterstützte. «Swetlana ist die Siegerin der Wahl.»

Doch knapp zwei Wochen nach der Präsidentenwahl beißt sich die Opposition bisher die Zähne aus am Machtapparat. «Keiner nimmt unsere Anrufe an», klagt der frühere Kulturminister Pawel Latuschko, ebenfalls ins Präsidium des Koordinierungsrates gewählt. Der 47-Jährige berichtet, dass er bedroht werde: einen Farbanschlag auf sein Haus gab es und Aufforderungen, das Land zu verlassen.

EU erkennt Lukaschenko nicht mehr an

Prominenteste Vertreterin in dem Rat ist die 72 Jahre alte Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Sie hatte Lukaschenko zuletzt zum Rücktritt aufgefordert, «bevor es zu spät ist». Doch der 65-Jährige denkt auch nach 26 Jahren an der Macht nicht ans Aufhören. Er droht, den Koordinierungsrat zu zerstören. Seine Gegner stempelt er seit Wochen wahlweise als vom Ausland bezahlte rechtsextreme Nationalisten oder Neonazis, Kriminelle, Arbeitslose und Drogensüchtige ab.

Generalstaatsanwalt Alexander Konjuk leitete am Donnerstag ein Strafverfahren ein gegen das Gremium – wegen des Versuchs der illegalen Machtergreifung. Auch Unternehmer, Wissenschaftler und Juristen arbeiten in dem Koordinierungsrat. Dass die EU Lukaschenko nun erstmals in der Geschichte der stets von Betrugsvorwürfen überschatteten Wahlen praktisch nicht als Staatschef anerkennt, prallt an ihm ab. Lukaschenko betonte mehrfach, dass er das Land nicht hergebe, solange er lebe.

Besonders wichtig sei es jetzt, dass Russland und die EU den Dialog in Minsk unterstützen, sagt Latuschko. Signale dafür gab es aus Moskau, Brüssel und Berlin. Auch der Politologe Arseni Sawizki sieht erste Anzeichen, dass Russland nicht um jeden Preis an Lukaschenko festhalte und den Übergangsprozess unterstützen könnte. «Es gibt auch erste Anzeichen einer Spaltung innerhalb der Elite in Belarus», meinte er. Er erwartet eine lange politische Krise in dem Land.

Veränderungsprozess von innen heraus

Die demokratischen Kräfte betonten, dass es in erster Linie darum gehe, den Veränderungsprozess von innen heraus anzugehen – mit dem Ziel, gute Beziehungen zu Russland und zur EU zu haben. «50 Prozent unseres Exports gehen nach Russland», sagt Latuschko mit Blick auf Vorwürfe der eigenen und russischen Regierung, es gehe in dem Konflikt der EU wie im Fall der Ukraine darum, den geopolitischen Einfluss Moskaus zu schwächen.

Die Zahl derer, die sich inzwischen abwenden vom System, wächst. Viele Arbeiter in den Staatsbetrieben streiken. Einzelne Staatsbeamte erklären öffentlich die Unterstützung für die Demokratiebewegung. Wer seine Arbeit verliert durch die Proteste, erhalte Hilfe aus einem Solidaritätsfonds, sagt Kolesnikowa.

Doch Lukaschenkos Machtapparat mit dem staatlich kontrollierten Fernsehen und dem Geheimdienst KGB ist inzwischen wie aus einer Schockstarre erwacht. Die Propaganda macht die aus Angst um ihre Sicherheit ins Exil geflüchtete Kandidatin Tichanowskaja zur Staatsfeindin Nummer eins. Dazu zeigt das Staatsfernsehen blühende Landschaften in dem auch für seine Biosphärenreservate bekannten Belarus und schneidet dann Szenen der Straßenschlachten nach der Präsidentenwahl dagegen – mit der Botschaft: Tichanowskaja wolle das in all den Jahren aufgebaute schöne Land zerstören. Schon jetzt liege der Schaden bei Hunderten Millionen Euro, heißt es da.

Der Staatsapparat bringt inzwischen in mehreren Städten Tausende linientreue Lukaschenko-Unterstützer auf die Straße. Sie rufen «Für Batka», wie Lukaschenko von seinen Anhängern liebevoll genannt wird. Und sie ahmen Aktionen der Opposition nach, stehen mit wehenden rot-grünen Staatsflaggen am Straßenrand. Doch niemand hupt ihnen zu. Die Hupkonzerte der Autofahrer gibt es weiter nur für die Lukaschenko-Gegner, die in der Überzahl sind. Sie stehen am Straßenrand mit den historisch weiß-roten Fahnen des Landes – und rufen in vielen Aktionen täglich «Freiheit» und «Es lebe Belarus».

 

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