Die EU ist komplex: komplizierte Themen, etliche Institutionen, undurchsichtige Zuständigkeiten - und alles weit weg vom Bürger. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, fordert deshalb einen «demokratischen Sprung nach vorn» und mehr Bürgernähe. Wie das gehen soll? Am Mittwoch hat der Luxemburger seine Ideen vorgestellt, kommende Woche Freitag diskutieren die Staats- und Regierungschefs bei einem Treffen in Brüssel darüber.

Welche Ideen hat Kommissionspräsident Juncker?

Die Leitlinien skizzierte Juncker schon im September, als er in Straßburg seine Rede zur Lage der Union hielt. Darin sprach er sich für transnationale Wahllisten und die Beibehaltung von Spitzenkandidaten bei der kommenden Europawahl aus. Beides hält er noch immer für sinnvoll, wie er am Mittwoch betonte.

2014 hatten die Fraktionen erstmals Spitzenkandidaten mit der Aussicht auf das Amt des Kommissionschefs aufgestellt. Vergangene Woche beschlossen die Abgeordneten erneut, auch 2019 nur jemanden in das Amt zu wählen, der Spitzenkandidat einer Partei war. Die Idee der transnationalen Wahllisten, über die Bürger künftig auch für Parlamentarier aus anderen Staaten hätten stimmen dürfen, scheiterte an den Stimmen der Europäischen Volkspartei.

Ist das alles?

Nein, Juncker brachte außerdem ins Spiel, das Amt des Kommissionschefs künftig mit dem des Ratspräsidenten zu verschmelzen. Das wäre ein Quantensprung in Brüssel. «Europa wäre leichter zu verstehen, wenn ein einziger Kapitän am Steuer wäre», sagte Juncker 2017. Am Mittwoch sprach er von einem «logischen Schritt» und zeichnete das Szenario eines zerstrittenen Führungsduos. «Das wäre ein Alptraum, und ich will nicht, dass dieser Alptraum wahr wird.» Wie genau die Wahl des EU-Präsidenten aussehen sollte, ließ er offen.

Die EU-Kommission, der Juncker vorsteht, macht Vorschläge für neue EU-Regeln und überwacht auch die Einhaltung der bereits bestehenden. Ratspräsident Donald Tusk ist Vermittler zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und vertritt deren Interessen nach außen.

Was versprechen sich die Befürworter von Junckers Ideen?

Sie sehen in den Änderungen eine Demokratisierung der EU. Ein einziger Präsident wäre einfacher zu vermitteln als die derzeitige Doppelspitze. Das Spitzenkandidaten-System stärkt den politischen Wettbewerb - aber auch das Europäische Parlament, also die einzige Institution, die direkt von den EU-Bürgern gewählt wird. Es ergäbe Sinn, wenn die Wähler wüssten, wer Präsident der EU-Kommission werden könnte, sagte Juncker am Mittwoch. Der kroatische Regierungschef, Andrej Plenkovic, sagte ebenfalls in Brüssel, das System gäbe nationalen Debatten zur Europawahl eine «europäischere Dimension». Derzeit wird der EU-Ratspräsident von den Staats- und Regierungschefs bestimmt.

Welche Bedenken gibt es?

Mehr Macht für die einen bedeutet weniger Macht für die anderen. In Brüssel besteht zwar Einigkeit darüber, dass das System des Spitzenkandidaten nicht mehr umkehrbar ist. Dennoch herrscht im Europäischen Rat - also unter den Staats- und Regierungschefs - Skepsis. Der Rat fürchtet einen Machtverlust, wenn der Spitzenkandidat der stärksten Partei im Parlament als Kommissionschef gesetzt ist. Außerdem habe das Konzept die Europawahl 2014 nicht unbedingt belebt. Damals fiel die Wahlbeteiligung mit rund 43 Prozent auf ein Allzeittief.

Bisher schlägt der Europäische Rat den Kandidaten für das mächtige Amt des Kommissionschefs vor und muss das Ergebnis der Europawahl nur «berücksichtigen». Juncker betonte am Mittwoch, auch künftig müsse nicht automatisch der Kandidat aus der stärksten Partei zum Kommissionspräsidenten gewählt werden. Der künftige Kommissionschef müsse eine Mehrheit im Europäischen Rat und im Parlament haben.

Welche Kritik gibt es an der Idee eines einzigen EU-Präsidenten?

«Das würde zu Enttäuschungen führen», sagte der ehemalige Ratspräsident Herman Van Rompuy nach Junckers Rede zur Lage der Union. Ein einzelner könne die Erwartungen an ein solches Amt nicht erfüllen. Außerdem würde das Gleichgewicht gestört. «In der EU gibt es immer Spannungen zwischen den europäischen Interessen und den Interessen der Mitgliedsländer.» Die Kommission vertrete EU-Interessen, der Rat die nationalen.

Die Vorsitzende der Europäischen Grünen, Ska Keller, sieht im sogenannten Doppelhut derzeit ebenfalls keine Verbesserung. «Der Präsident der Kommission muss europäische Interessen vertreten und darf nicht zum Spielball der Interessen der Mitgliedstaaten werden.» Unter den Staats- und Regierungschefs herrscht wegen des Spitzenkandidaten ohnehin das Gefühl, Macht einzubüßen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Junckers Vision umgesetzt wird?

Dass die Fraktionen wieder Spitzenkandidaten aufstellen werden, steht außer Frage. Es ist schwer vorstellbar, dass nicht auch einer von ihnen Kommissionspräsident wird. Nach EU-Recht wäre auch der Doppelhut zulässig. Bis Junckers Vision Wirklichkeit wird, könnten aber noch Jahre vergehen. Er selbst sagte am Mittwoch, damit würde man den Mitgliedstaaten derzeit zu viel abverlangen.

Von Michel Winde

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