Ein starkes, handlungsfähiges, verlässliches Europa in einer unsicheren Welt: Acht Monate nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Vision für die Europäische Union und die Eurozone skizziert. Die Ziele klingen luftig, doch erstmals geht die deutsche Regierungschefin in einem Interview der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» auch ins Detail.

In Paris und Brüssel lobte man dies am Montag höflich. Aber in einigen Punkten liegt die Kanzlerin mit den europäischen Partnern noch recht offensichtlich über Kreuz. Nun drängt die Zeit, denn schon Ende des Monats sollen die EU-Staats- und Regierungschefs beim Brüsseler Gipfel wichtige Reformen dingfest machen. Was will die Kanzlerin und was wird daraus? Einige Anhaltspunkte:

Migration und Flüchtlinge

Die europäische Asylreform ist seit Jahren Streitthema Nummer eins in der EU - nun sucht Merkel in mehreren Punkten eine gemeinsame Linie mit Macron. Sie will die europäische Grenzschutzbehörde Frontex zu einer eigenständigen «europäischen Grenzpolizei mit europäischen Kompetenzen» ausbauen. Und sie unterstützt die Idee einer europäischen Flüchtlingsbehörde, die langfristig vereinheitlichte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen abwickeln könnte. Die Details sind jedoch offen und bergen Konfliktpotenzial. Soll etwa diese Behörde über die Verteilung der Schutzsuchenden in Europa entscheiden? Dem würden Länder wie Ungarn im Europäischen Rat kaum zustimmen. Die Verteilung der Menschen nach Quoten ist bislang das größte Hindernis für eine EU-Asylreform, und hier zeigt Merkel noch keine wirkliche Lösung.

Die Eurozone

Merkel will den europäischen Rettungsschirm ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) ausbauen. Die Idee ist schon länger auf dem Markt und findet auch breite Zustimmung. Strittig sind die Details. Der jetzige ESM kann gegen Spar- und Reformauflagen langfristige Kredite an pleitebedrohte Staaten vergeben, wenn die Stabilität der Eurozone in Gefahr ist. Er wird von den 19 Euro-Staaten kontrolliert. Merkel will für den künftigen EWF zusätzliche Kompetenzen - so die Vergabe kürzer laufender Kredite und die Beurteilung der Wirtschaftsdaten betroffener Länder -, will aber auch den neuen Fonds zwischenstaatlich organisieren. Das widerspricht Plänen der EU-Kommission, die eine EU-Institution will. Letztlich geht es darum, wer die Kontrolle und das Sagen hat.

Auch Merkels Variante eines «Investivhaushalts» dürfte für Debatten sorgen. Sie will mit einer Summe «im unteren zweistelligen Milliardenbetrag» Investitionen und Innovationen in Euro-Ländern mit Nachholbedarf fördern. Das ist recht nah an Ideen der EU-Kommission, die EU-Staaten in den Jahren 2021 bis 2027 mit 25 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt bei Strukturreformen unterstützen will. Macron wollte dagegen einen Eurozonen-Haushalt mit einem vielfachen Volumen. Trotzdem scheint ein Konsens möglich.

Militärische Unabhängigkeit

Die Kanzlerin stellt sich ausdrücklich hinter Macrons Idee einer europäischen Interventionstruppe. Diese soll Europa sicherheitspolitisch schlagkräftiger und unabhängiger von den USA machen und könnte zum Beispiel eingreifen, wenn Terrororganisationen in Afrika demokratisch gewählte Regierungen bedrohen. Der Unterschied zu Macron: Merkel will die neue Truppe in EU-Strukturen einbinden. Der französische Präsident fürchtet, dass die Einheit dann nicht so schnell und flexibel einsetzbar wäre wie nötig. Auch will er eine Tür für die Briten offen halten, obwohl die 2019 aus der EU austreten.

Eine Einigung ist nicht ausgeschlossen, aber die Geschichte zeigt, dass nicht jeder Kompromiss taugt: Denn eigentlich hat die EU bereits seit 2007 Krisenreaktionskräfte. Die sogenannten Battlegroups kamen aber noch nie zum Einsatz, unter anderem, weil die Truppensteller auch die Einsatzkosten zum größten Teil selbst tragen müssten.

Der EU-Sicherheitsrat

Bis die EU-Staaten in wichtigen außenpolitischen Fragen eine gemeinsame Linie finden, vergeht oft viel Zeit - deshalb wirkt Europa auf der Weltbühne blass. Merkel bringt nun die Idee eines EU-Sicherheitsrats in Spiel, der nur aus einem Teil der EU-Staaten bestehen würde und damit schneller handeln könnte. Allerdings könnte ein solches Gremium in der EU eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zementieren. Der Vorschlag hat deshalb kaum Aussicht auf Zustimmung kleinerer Länder, die in dem neuen Rat nicht immer vertreten wären. Schon eher denkbar ist es, dass mittelfristig die nichtständigen Sitze der EU-Mitglieder im UN-Sicherheitsrat zu europäischen Sitzen entwickelt werden - das ist ein weiterer Vorschlag von Merkel.

Der EU-Haushalt

Überraschend plädiert Merkel wie EU-Kommission und Parlament dafür, den EU-Finanzrahmen für die Jahre ab 2021 noch vor der Europawahl 2019 auszuhandeln. Ihr Argument auch hier: handlungsfähig bleiben. Viele EU-Länder halten eine Einigung binnen so kurzer Frist aber für unrealistisch, zumal die Verteilungskämpfe wegen der Milliardenlücke nach dem Brexit besonders heftig werden dürften. Inhaltlich geht Merkel auf Länder wie Österreich oder die Niederlande zu, die die EU-Ausgaben nach dem Austritt der Briten strikt deckeln wollen. Merkel bekräftigt zwar das deutsche Versprechen, mehr als bisher in den EU-Haushalt einzuzahlen - so steht es im deutschen Koalitionsvertrag - aber eben nicht so viel, wie die EU-Kommission will. Merkel spricht von einer «gemeinsamen Position» der Nettozahler. Das könnte die Einigungschancen steigern.

Die EU funktionstüchtiger machen

Neu ist Merkels Bekenntnis zu zwei Punkten, die Macron wichtig waren: eine Verkleinerung der EU-Kommission von derzeit 28 Kommissaren und sogenannte transnationale Listen. Merkel sagt, es sollten «weniger Kommissare als bisher» sein, und dafür sollten auch große Länder «in einem Rotationsverfahren einmal auf einen Kommissar» verzichten. Im Klartext: Auch Deutschland könnte in der Führung der Brüsseler Behörde zeitweise nicht vertreten sein. Macrons Linie ist ähnlich. Zwischen Paris und Berlin zeichnet sich also ein Konsens ab, der auch für kleinere Staaten attraktiv sein könnte. Am Ende könnte die riesenhafte Behörde kleiner und agiler werden. Das ist aber, wenn überhaupt, ein Projekt für das nächste Jahrzehnt. Dasselbe gilt für die transnationalen Kandidatenlisten der Parteien, für die EU-Bürger unabhängig von ihrem Herkunftsstaat stimmen könnten. Diese Listen finden vor allem bei Merkels Parteienfamilie, der Europäischen Volkspartei, bislang keinen Anklang.

Von den Brüsseler dpa-Korrespondenten

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