Wenn sich Touristen derzeit an der Westküste des kleinen EU-Staates Zypern auf der Strandliege aalen und den Blick in die Ferne schweifen lassen, sehen sie - nichts. Und doch braut sich am Horizont ein massiver Konflikt zusammen: Nur rund 36 Seemeilen entfernt liegt das türkische Bohrschiff «Fatih» und erkundet den Meeresgrund nach Bodenschätzen. Im Süden und Osten der Insel suchen zwei weitere türkische Schiffe nach Erdgas. Die EU will deswegen am Montag auf Drängen von Zypern Strafmaßnahmen gegen die Türkei beschließen.

Das Erdgasvorkommen südlich von Zypern allein könnte Experten zufolge rund 227 Milliarden Kubikmeter umfassen und Gewinne von mehr als 40 Milliarden Euro generieren. Längst hat die zyprische Regierung Konzessionen an Energiekonzerne wie Shell und Exxon Mobil vergeben.

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Erdgasstreit im Mittelmeer

Die Türkei ist vor Zypern ohne Konzession unterwegs. Deswegen plant die EU nun, die Verhandlungen über ein neues Luftverkehrsabkommen auszusetzen. Außerdem könnten EU-Hilfen für die Türkei gekürzt und EU-Kreditvergaben einschränkt werden. Die Zyprer wären gerne noch weiter gegangen. Die meisten anderen Staaten wollen aber eine allzu drastische Eskalation des Konflikts vorerst vermeiden. Sie fürchten unter anderem, dass die Türkei im Gegenzug die Zusammenarbeit im Kampf gegen illegale Migration einstellen könnte.

Unangenehme Strafen

Für die Türkei wären EU-Strafen unangenehm - vorsichtig ausgedrückt. Ihr drohen schon von anderer Seite Sanktionen: von den USA wegen der Anschaffung eines russischen Raketenabwehrsystems, dessen erste Lieferungen am Freitag in Ankara ankamen. Für die fragile türkische Wirtschaft wären Strafen von beiden Seiten ein weiterer Tiefschlag.

Das schimmerte vergangene Woche schon durch die Worte des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu: Die EU könne kein neutraler Vermittler sein, eben weil die Republik Zypern zur EU gehöre, sagte er. Man solle sich nicht einfach aus Prinzip solidarisch erklären. Fast trotzig kündigte er an, man werde die Bohrungen fortsetzen

Kein Wunder. In dem Konflikt geht es nicht nur um Erdgas im Wert von Milliarden Euro, sondern auch um starke geopolitische Interessen, um internationales Recht - und irgendwie auch ums Prinzip.

Recht zum Abbau von Bodenschätzen

Um zu verstehen, wer wie argumentiert, muss das Seerecht der Vereinten Nationen (UN) bemüht werden. Es legt für Küstenländer eine Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) fest. Die reicht weit über die zwölf Seemeilen der Hoheitsgewässer eines jeweiligen Landes hinaus. Bis zu 200 Meilen ab der Küste hat ein Staat das alleinige Recht zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Bodenschätzen. Liegt die Küste eines anderen Landes näher, gilt die Mittellinie zwischen beiden Küsten.

Die Türkei hat dieses internationale Abkommen nie unterschrieben - und spricht Zypern die AWZ ab, weil es sich lediglich um eine Insel handele. Ein Blick in den Atlas erklärt die türkische Haltung: Wenn alle Mittelmeer-Anrainer ihre AWZ von 200 Seemeilen geltend machten, zöge die Türkei bei der Ausbeutung von Bodenschätzen eine Niete. Zypern und auch die kleine griechische Insel Kastelorizo unmittelbar vor der Südwestküste der Türkei verringern die türkische AWZ drastisch. Ankara argumentiert, es könne nicht angehen, dass der Staat mit der längsten Küste im östlichen Mittelmeer leer ausgehe.

Die Forderungen der Türkei sind nicht zwingend aus der Luft gegriffen, was die AWZ angeht. Nicht umsonst will Griechenland - neben Großbritannien und der Türkei seit 1960 Garantiemacht von Zypern - den Fall nur ungern vor einem internationalen Gericht sehen. Der Ausgang wäre unklar.

Jahrzehntelanger Konflikt im Hintergrund

Ankara kann sogar ein internationales Fallbeispiel für sich anführen: Die vor der Ostküste Kanadas gelegenen französischen Inseln Saint-Pierre und Miquelon. Das kleine Archipel mit rund 6000 Einwohnern hatte einst eine AWZ von 200 Seemeilen Fischerei-Gebiet für sich beansprucht. Ein Schiedsgericht gestand den Inseln schließlich lediglich einen Korridor zur Fischerei zu. Der komplette Radius hätte kanadische Fischer vollständig ausgeschlossen.

Im Fall von Zypern und der Türkei liegen die Dinge komplizierter. Es geht nicht nur um Vertragliches wie Seerecht oder verschwommene Grenzen. Im Hintergrund schlummert ein jahrzehntelanger Konflikt, der auf beiden Seiten immer wieder böse Erinnerungen wach werden lässt.

Die Insel ist de facto geteilt: Nordzypern, bewohnt vornehmlich von türkischstämmigen Zyprern, ist seit 1974 von der Türkei besetzt - 2004 jedoch wurde die gesamte Insel EU-Mitglied. Die Türkei fürchtet nun die Unterdrückung der türkischen Zyprer; die Republik Zypern hingegen verlangt den Abzug der türkischen Truppen. Eine Einigung über den Status der Insel ist nicht in Sicht, Vermittlungsversuche der UN haben jahrzehntelang immer wieder ergebnislos geendet.

Einigung unwahrscheinlich

So scheint auch eine Einigung im Erdgas-Streit wenig wahrscheinlich. Sie scheitert von vornherein an einem Paradoxon: Kein Land außer der Türkei erkennt die Republik Nordzypern an. Im Gegenzug akzeptiert die Türkei das EU-Land Zypern nicht. So können sich die Kontrahenten auch nicht an einen Tisch setzen - sie würden damit den anderen als ebenbürtigen rechtsfähigen Gesprächspartner anerkennen.

Dennoch hoffen Optimisten, dass gerade der Erdgas-Reichtum die Parteien irgendwann zur Vernunft bringen könnte. Erste Hinweise gibt es: Am Samstag teilte das türkische Außenministerium mit, Nordzypern habe der Republik Zypern angeboten, die Bodenschätze gemeinsam zu erforschen und zu heben. Der Führer der türkischen Zyprer, Mustafa Akinci, habe über die UN alle beteiligten Parteien dazu aufgerufen, «diese wichtige Chance zu ergreifen».

Von Alexia Angelopoulou, Takis Tsafos, Ansgar Haase und Christine-Felice Röhrs

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