Nach 17 197 Tagen geht ein historisches Kapitel zu Ende. 47 Jahre und einen Monat war Großbritannien nach dem Beitritt 1973 Mitglied in der Europäischen Union und deren Vorläufer. Jetzt schwimmt sich das Vereinigte Königreich frei, kappt die Bande mit Brüssel. Am Freitagabend um 24.00 Uhr Brüsseler Zeit ist Brexit.

Die letzte ernsthafte Hürde wird an diesem Mittwoch das Europaparlament ausräumen. In Brüssel wird der Austrittsvertrag mit Großbritannien ratifiziert. Dass die Mehrheit der 751 Europaabgeordneten das Abkommen (gegen 18.00 Uhr) absegnet, gilt als Formsache, nachdem das britische Parlament endlich einen Haken dran gemacht hat. Lange genug hat es gedauert, mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Votum der britischen Wähler im Referendum 2016.

Auf den letzten Metern dürfte es noch einmal feierlich werden. Die Abgeordneten würdigen zum Abschied ihre britischen Kollegen - und die Brexit-Partei plant Jubelfeiern. Aber für die meisten Europäer bleibt der Brexit erst einmal ziemlich abstrakt. Erst Ende des Jahres wird es spannend.

Was ändert sich am 1. Februar im Alltag?

Nichts, sagt die EU-Kommission. Denn unmittelbar nach dem Austritt beginnt eine Übergangsphase bis 31. Dezember. «Bis zu diesem Zeitpunkt ergeben sich für die Bürgerinnen und Bürger, Verbraucher, Unternehmen, Investoren, Studenten und Forscher in der EU und im Vereinigten Königreich keine Änderungen», versichert die Brüsseler Behörde. Man kann reisen wie bisher, ohne Roaming-Gebühren beim Handy. Man kann ohne Sorge Waren von britischen Webseiten bestellen. Oder wie bisher mit EU-Stipendien in Großbritannien studieren.

Was ändert sich für Großbritannien?

Übergangsphase heißt: Großbritannien ist zwar raus und offiziell Drittstaat, hält sich aber bis Jahresende an alle EU-Regeln und zahlt in den EU-Haushalt ein. Alle EU-Programme laufen in Großbritannien weiter. Nur darf das Land in Brüssel nicht mehr mitreden. Es hat keine Vertretung mehr in der EU-Kommission, bei Ministerräten, bei EU-Gipfeln oder im EU-Parlament. Dort verlieren am 1. Februar 73 britische Abgeordnete ihr Mandat. 27 freiwerdende Sitze gehen an Nachrücker aus 14 EU-Staaten, die bisher gemessen an der Bevölkerung zu schwach vertreten waren. 46 Sitze werden in einer Reserve geparkt.

Wie stark trifft der Brexit die EU?

Die Europäische Union verliert eine Atommacht und ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Von den bisher rund 512 Millionen Einwohnern der EU bleiben nur gut 446 Millionen übrig. Das Bruttoinlandsprodukt der EU von 15,3 Billionen Euro 2018 schrumpft um rund 15 Prozent. Weil Großbritannien einer der wichtigsten Beitragszahler war, fehlen in den Jahren ab 2021 rechnerisch bis zu 14 Milliarden Euro pro Jahr im EU-Haushalt. Auch deutsche Steuerzahler sollen einen Teil der Lücke stopfen.

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Die EU ohne Großbritannien in Zahlen.

Wer muss jetzt aufpassen?

Ein tiefer Einschnitt ist der Brexit vor allem für die 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die 1,2 Millionen Briten in der EU. Der Austrittsvertrag sichert ihnen zu, dass sie und ihre engsten Angehörigen weiter leben können wie bisher. Doch müssen sich EU-Bürger in Großbritannien bis Ende des Jahres registrieren lassen, sonst könnten sie das Aufenthaltsrecht doch verlieren. Auch einige EU-Staaten haben Registrierungspflichten. Bis zum Jahresende könnte man übrigens auch noch nach EU-Regeln nach Großbritannien ziehen, denn das Land gehört in der Übergangsfrist zum Binnenmarkt und muss Freizügigkeit akzeptieren. Kommen darf in der Regel, wer einen Job oder genug Geld für den eigenen Lebensunterhalt hat.

Wer muss sich Sorgen machen?

Für die Zeit nach der elfmonatigen Übergangsfrist ist nur wenig geregelt. Wird es künftig Zölle geben? Wie intensiv werden Waren an den Grenzen kontrolliert? Wer darf wo in der Nordsee wie viel Fisch fangen? Ändert sich künftig doch etwas beim Reisen? Dürfen EU-Bürger weiter in Großbritannien arbeiten? Wie geht es weiter mit dem Studentenaustausch? Darf die Polizei auch künftig Verbrecherdaten austauschen? All das und noch viel mehr ist ungeklärt und soll nun in Windeseile vor dem Jahresende vertraglich festgezurrt werden. «Wir haben sehr wenig Zeit, die ganzen Verhandlungen fertig zu bekommen», warnt Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel. «Elf Monate sind einfach ein unmöglicher Zeitplan.» Nicht nur Wirtschaftsverbände sind deshalb unruhig. Ohne Vertrag zum künftigen Verhältnis droht doch noch der Sturz ins Ungewisse.

Was ist schon vertraglich geregelt?

Ganz so wie der lange gefürchtete Chaos-Brexit ohne Austrittsvertrag wäre es aber nicht, denn dieser enthält schon einige auf Dauer angelegte Klauseln. Die wichtigste ist die Vereinbarung für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. So ist bereits festgelegt, dass in Nordirland in jedem Fall für die nächsten Jahre einige Regeln des EU-Binnenmarkts und besondere Zollregeln gelten. Im übrigen klärt der mehr als 500 Seiten starke Vertrag, wie viel Großbritannien noch für offene Rechnungen an die EU zahlen muss. Es gibt diverse Übergangsregeln. Und abgemacht ist auch: Parmaschinken, bayerisches Bier und andere regionale Esswaren bleiben in Großbritannien geschützt - ebenso wie «walisisches Lamm» und vieles mehr in der EU.

Was muss jetzt als erstes geklärt werden?

Oberste Priorität in den Verhandlungen der nächsten Monate ist für beide Seiten ein Handelsabkommen. Das Motto heißt: Keine Zölle, keine Kontingente, kein Dumping. Die EU will den britischen Zugang zum Binnenmarkt nur in dem Maß gewähren, in dem Großbritannien auch künftig gemeinsame Standards einhält, seien es nun Umwelt-, Sozial-, Steuer- oder Warenstandards. Die britische Regierung will jedoch möglichst ihre eigenen Regeln setzen - aus ihrer Sicht ist das ja der Hauptvorteil des Brexits. In dieser Gemengelage hält die EU-Seite bis Jahresende bestenfalls ein Rumpf- oder Rahmenabkommen für möglich. Die Alternative, die Übergangsfrist zu verlängern, lehnt der britische Premier Boris Johnson bisher ab.

Wie geht es ab 1. Februar weiter?

Am 3. Februar will die EU-Kommission einen Vorschlag zur Verhandlungslinie machen, die die 27 bleibenden EU-Staaten zunächst beraten und dann am 25. Februar billigen wollen. Kurz darauf können die Verhandlungen starten. Im Juni will die EU Zwischenbilanz ziehen. Vor dem 1. Juli müsste auch über die etwaige Verlängerung der Übergangsfrist entschieden werden. Das Abkommen muss aus EU-Sicht bis spätestens November stehen, damit Zeit zur Ratifizierung bleibt. EU-Diplomaten fürchten bereits ein neues Brexit-Drama zum Jahresende.

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