Angela Merkel hat die Ruhe weg, zumindest äußerlich. Die Hände zur Kanzlerinnenraute geformt dankt sie artig dem Gastgeber des sonntäglichen Brüsseler Asyltreffens, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Als wackle nicht daheim ihre Regierung, als säße ihr nicht Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Nacken, der mehr als eine Rechnung offen hat mit Merkel.

Vier Stunden und eine, wie Belgiens Premier Charles Michel es nennt, «intensive» Diskussion später, steht Merkel wieder vor den Kameras, ein Blatt in den Händen. «Wir sind uns alle einig, dass wir die illegale Migration reduzieren wollen, dass wir unsere Grenzen schützen wollen, und dass wir alle für alle Themen verantwortlich sind.» Soll heißen: Alle Staaten sollen sich für den Grenzschutz im Süden verantwortlich fühlen. Und alle sollen sich für die Migranten zuständig fühlen, von denen viele einfach weiterziehen nach Norden. Konkreter wird es nicht.

Für den deutschen Asylstreit verheißt das nichts Gutes. Wenn Merkel nicht liefert bis zum EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag und zum Beispiel andere EU-Länder überzeugt, Deutschland wieder leichter Migranten abzunehmen, will Seehofer deren Zurückweisung an der Grenze anordnen. Sie würde ihn wohl rauswerfen, was das Ende der Koalition bedeuten dürfte. Ganz davon zu schweigen, dass ein deutscher Alleingang die europäische Zusammenarbeit in Asylfragen aufs Spiel setzen würde: Wenn Deutschland mit der Zurückweisung von Migranten begänne, würden wohl andere folgen. Wenn andere folgten, würden Länder wie Italien die Ankömmlinge kaum noch registrieren.

«Es geht hier nicht um das Überleben einer Kanzlerin!»

Einer, der mindestens ebenso eifrig wie Merkel den Elefanten im Raum wegredet, ist Luxemburgs Premier Xavier Bettel. «Es geht hier nicht um das Überleben einer Kanzlerin!», wehrt er ab auf die Frage eines Journalisten, sondern um europäische Lösungen. Merkels französischer Verbündeter Emmanuel Macron warnt die Europäer vor dem Abgrund: «Wir haben Werte. Sie haben uns geformt und jedes Mal, wenn wir sie verraten haben, haben wir Schlimmeres verursacht.» Nach dem Treffen betont er wortreich die gemeinsame Haltung der Europäer zu ohnehin nicht strittigen Punkten.

Doch nicht jeder wirkt ähnlich alarmiert. Österreichs junger Kanzler Sebastian Kurz, der sich bestens versteht mit Seehofer, ist ganz angetan von der «gewissen Dynamik» der Situation. Die Begrenzung der Migration sei ja inzwischen das gemeinsame Ziel. «Und allein das ist schon Bewegung genug», sagt Kurz und kann sich eine Spitze nicht verkneifen: «2015 war das nicht so.»

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Routen und Zahlen von Flüchtlingen in Europa.

Italiens neuer Regierungschef Giuseppe Conte hat ein Papier mitgebracht, das einen «radikalen Wandel» einläuten soll. Die Dublin-Regelung, nach der Migranten in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie zuerst innerhalb der EU betreten, will er abschaffen. Flüchtlinge will er in «Schutzzentren» in Transitländern unterbringen, so dass sie gar nicht erst nach Europa kommen. Ganz neu ist das alles nicht und sein Nachbar im Osten, Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras, lässt das auch deutlich durchblicken. «Was ist der italienische Plan?», fragt er lachend auf eine Frage nach dem Papier und fügt dann etwas ernsthafter an: «Ich denke, die meisten dieser Vorschläge waren Vorschläge, die wir schon versucht haben umzusetzen.»

Es deutet alles auf Abschottung hin

Es deutet alles auf Abschottung hin, nach dem Brüsseler Treffen und vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag: eine Aufrüstung der EU-Außengrenzen und die Einrichtung von Asylzentren jenseits der EU. Doch selbst wenn sich die EU-Staaten noch in dieser Woche auf Schritte in diese Richtung einigen sollten - was für Europa und die europäische Idee folgenreich wäre - ob Merkel das am Ende hilft, ist fraglich.

Die CSU triezt sie bekanntlich wegen einer anderen Sache. Seehofer geht es um Schutzsuchende, die erst in einem anderen EU-Land um Asyl bitten, dann nach Deutschland weiterreisen und hier noch mal Asyl beantragen. Diese Menschen will er an der deutschen Grenze abweisen. Und zwar notfalls im nationalen Alleingang. Wie genau das praktisch gehen sollte - ob er zum Beispiel flächendeckende Grenzkontrollen anstrebt, damit es nicht nur Zufallstreffer gibt - all das verrät Seehofer nicht.

Nach den «Dublin»-Regeln der EU ist zwar vorgesehen, solche Asylsuchenden ins Ersteinreise-Land zurückzuschicken - allerdings in einem geordneten Verfahren und nicht per direkter Zurückweisung, wie Seehofer es nun will. Das System funktioniert aber schon lange nicht mehr. Damit begründet Seehofer seinen plötzlichen Ausbruch.

CSU bangt um die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl

Trotzdem ist verwunderlich, dass er ausgerechnet jetzt damit kommt - noch dazu mit dieser Wucht. Die Zeiten, in denen täglich Tausende Menschen über die deutsche Grenze kamen, sind lange vorbei.

Und es geht hier ohnehin um eine vergleichsweise überschaubare Zahl von Fällen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt, 2017 seien in Deutschland 40 000 Flüchtlinge registriert worden, die schon in anderen Ländern einen Asylantrag gestellt hätten. Das also soll der Grund sein, für den die CSU die Koalition platzen lassen würde?

Die CSU bangt um die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl im Oktober und fürchtet die AfD. Und dass die CSU-Spitze nicht sonderlich mit Merkel und ihrem Kurs harmoniert, ist lange bekannt. Auch in Merkels Umfeld haben manche den Eindruck, die CSU wolle die Kanzlerin fast um jeden Preis aus dem Amt hebeln. Egal, was sie tut.

Also: Selbst wenn Merkel es schafft, mit anderen EU-Staaten bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen zu schließen, hören die Attacken aus Bayern dann auf? Sehr fraglich. Kurzzeitig vielleicht, doch auf lange Sicht scheint der Riss zwischen Merkel und der CSU-Spitze kaum zu heilen. Dazu ist zu viel kaputt gegangen.

Von Christiane Jacke und Martina Herzog

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