An Bord der «Aquarius» - Von Südsizilien aus dauert es weniger als einen Tag, um mit einem Schiff in die Zone des Mittelmeers zu gelangen, wo Bilder plötzlich Wirklichkeit werden. Ein überfülltes Schlauchboot am Horizont. Menschen ohne Schwimmwesten mit angsterfüllten Gesichtern. Die Angst wird in ihren Schreien hörbar. Sie bleibt auch in der Nase hängen. Sie riecht nach Körpern, sauer, nach Meerwasser, gemischt mit Urin, Schweiß und im schlimmsten Fall auch Benzin. In Europa kommt wenig davon an.

Schlauchboote auf dem offenen Meer

Für die Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerrannée ist diese Wirklichkeit Alltag. Die Menschen sind für sie nicht nur Zahlen, sie stehen für Geschichten, Schmerzen, Hoffnungen. Mit der «Aquarius» retten sie im Mittelmeer Menschen aus Seenot, wenn die zuständige Leitstelle in Rom sie dazu anweist. Manchmal hat die 30-köpfige Crew das Boot für sich alleine, bis wieder ein Notruf kommt, wie am Dienstag, kurz nach 5.00 Uhr morgens. Mehr als 730 Kinder, Frauen und Männer werden von einem riesigen Offshore-Versorgungsschiff auf die 77 Meter lange «Aquarius» gebracht. Auf der Ladefläche hatten sie seit ihrer Rettung durch andere private Helfer ausgeharrt. Stundenlang rast die sogenannte Search-and-Rescue-Crew mit zwei Booten zwischen den beiden Schiffen hin und her. Kaum ist der Transfer der Migranten abgeschlossen, sieht man es von der Kommandobrücke mit einem Fernglas kommen: ein Schlauchboot auf dem offenen Meer.

Es wird ein langer Tag für die Mannschaft auf der «Aquarius». Gegen 14.45 Uhr rücken die Rhibs - Schlauchboote mit einem festen Rumpf - noch einmal aus: zu einem blauen Boot, das besonders fragil ist. 0,7 Millimeter Stärke misst das blaue Gummi, an Bord sind um die 150 Menschen. Wer nicht schon vorher krank war, ist spätestens nach 16 Stunden auf dem Wasser erschöpft, dehydriert, mit schwersten Brandverletzungen und Verätzungen durch Benzin und Meerwasser, dem Kollaps nahe. Nur wenige der Frauen können sich aus eigener Kraft an Bord der Boote retten. Aber alle überleben.

«Menschen sind in Gefahr»

Die «Aquarius» war gerade in der Search-and-Rescue-Zone angekommen, da kommen auf rund 20 Helfer auf dem umfunktionierten ehemaligen Fischereischutzschiff 1032 Menschen. «Ich habe Hunger», «Wann gibt es etwas zu essen?», «Mein ganzer Körper tut weh», «Gibt es auch Betten?», «Wann sind wir in Italien?» Die Liste der Bedürfnisse ist lang. «Viele haben lange keinen Arzt gesehen», sagt Craig, der Arzt an Bord. Es gibt Wasser. Notfallrationen. Frisches T-Shirt, Trainingshose, Decke, Handtuch. Das muss reichen für die nächsten 36 Stunden, es muss reichen, bis das Schiff in Italien anlegt.

Während die «Aquarius» auf den Hafen in Kalabrien zusteuert, erreicht die Helfer die Nachricht, dass Italien mit der Abweisung von Schiffen von Hilfsorganisationen mit Überlebenden droht.

«Wenn überhaupt ist das ein Hilferuf der italienischen Regierung in Richtung der EU», sagt Marcella Kraay, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen an Bord der «Aquarius». «Und es geht einher mit dem, was wir stets gefordert haben. Wir haben die EU immer dazu aufgefordert, Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer zu ermöglichen und zu organisieren. Bis das passiert, sind wir gezwungen, dort draußen zu sein. Denn Menschen sind in Gefahr, sie werden ertrinken, wenn wir nicht da sind.»

Hoffnung und Ungewissheit

Die 1032 Überlebenden an Bord der «Aquarius» sind ein Bruchteil der mehr als 10 000, die alleine in den vergangenen Tagen im Mittelmeer gerettet wurden und nun in Italien ankommen. Der stundenlange Aufenthalt auf dem Schiff der NGOs wird zur Hängepartie. Es ist brütend heiß. Die Menschen wollen sich waschen, auf dem offenen Deck liegt ein dumpfer, beißender Geruch in der Luft. Nicht nur an Platz mangelt es, und dennoch gleicht der Aufenthalt an Bord einem einzigen sicheren Hafen auf einer langen Reise. Vorher: Armut, Hunger, Ausbeutung, Gewalt. Nachher: Ungewissheit, die zunächst noch Hoffnung ist.

Charles Asamoah aus Ghana blickt von dem kleinen Winkel, in dem er noch einen Sitzplatz unter einer Plane gefunden hat, auf das weite Meer. Noch immer ist kein Landstrich in Sicht, das Schiff fährt volle Geschwindigkeit. «Dass ich das überlebt habe», sagt der 45-Jährige. «Ich wusste aus den Nachrichten, dass Menschen sterben. Aber es gab keinen anderen Ausweg.» Aus Libyen, wo er in Lagern gefangen gehalten, ausgebeutet und misshandelt wurde. Es ist nicht nur seine Geschichte.

«Ihr habt ein komfortables Leben», sagt die 23-jährige Blessy aus Nigeria. Die 21-jährige Tracy sagt: «Ich will für meine Zukunft kämpfen.» Remi wünscht sich, dass ihre Kinder in Europa endlich zur Schule gehen können. Die Migrationskrise dauert schon so lange, dass längst klar ist, wie viele Träume in Italien, Deutschland, Großbritannien zerplatzt sind.

Interaktive Karte mit Zoom und Informationen zu den Hauptflüchtlingsrouten zwischen Mai 2014 und September 2015

Nicht enden wollende Krise

Stephane weiß das. Der 33 Jahre alte Seefahrer aus Frankreich ist auf der «Aquarius» mitverantwortlich für die Rettungseinsätze. «Was du in den Augen der Menschen lesen kannst oder was sie während der Rettung fühlen, ist etwas komplett anderes, als wenn wir sie an Bord haben», sagt er. «Hier werden sie wieder zu Menschen mit Würde, und dann, wenn wir Europa erreichen, verändern sich die Gesichter wieder.»

Auf der «Aquarius» macht sich niemand etwas vor. Mit den Rettungen werden Löcher in einer nicht enden wollenden Krise gestopft. Der deutsche Aktivist Anton Shakouri befürchtet, dass die «Aquarius» im kommenden Jahr nicht mehr in See stechen wird. Und das nicht, weil die Flüchtlingskrise bis dahin gelöst werden sein wird.

Von Lena Klimkeit, dpa

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