Das Erlebnis wird Jamila nie vergessen: Gefesselt saß sie den ganzen Tag lang auf dem Boden vor dem Lager. Die sengende Sonne Libyens knallte auf sie herunter. Ihr Körper war übersät mit Zucker, um Insekten anzulocken. Das hatten sich ihre Peiniger überlegt, um ihre Tortur zu verschlimmern.

«Als wir Libyen erreicht hatten, verlangten die Schmuggler unglaublich viel Geld, 20 000 Dollar für mich und meinen Mann», erinnert sich Jamila heute im Schutz eines Transitzentrums im Nachbarland Niger. Ihren wahren Namen will sie aus Angst nicht preisgeben. «Wir hatten das Geld nicht, also haben sie sich entschieden, uns zu bestrafen.»

Die 23-Jährige wollte der Gewalt in ihre Heimat Somalia entkommen und nach Europa fliehen, fiel aber im Bürgerkriegsland Libyen in die Hände von Menschenschmugglern. Zusammen mit anderen Migranten wurde sie in Lagern in Kufra, im Südosten Libyens, und in Bani Walid im Norden des Landes gehalten. An den Tagen der Tortur träumte sie von einer Zukunft in Europa. «Die meisten meiner Freunde in dem Lager dachten an Deutschland, an das Land, in dem wir sein wollen.»

Die Länder der EU streiten um die Verteilung von Flüchtlingen

Sie hatte Glück im Unglück. Seit Jahren versuchen Migranten, vor allem aus Libyen per Boot die Küste Europas zu erreichen. Etliche ertrinken. Die Länder der EU streiten sich noch immer, wie die Menschen, die aus den Fluten des Mittelmeers gerettet werden, verteilt werden sollen. Doch Jamila konnte sich einen Platz in Europa sichern: Sie ist eine der wenigen, die im Rahmen eines Programms des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aus Libyen gerettet und in den westafrikanischen Staat Niger gebracht wurde. Schutzbedürftige wie sie, die vor politischer Verfolgung oder Bürgerkrieg geflohen sind, sollen dann in eine sichere neue Heimat umgesiedelt werden. Für Jamila soll es laut UNHCR nach Frankreich gehen.

Doch seit einem halben Jahr hat sich nichts getan. Nun harrt sie wieder in der sengenden Hitze aus, in einem Transitzentrum nördlich der nigrischen Hauptstadt Niamey, und wartet - gestrandet in einem Niemandsland des Asyls.

Auf dieses Umsiedlungsprogramm hatten sich europäische und afrikanische Länder 2017 geeinigt. Finanziert wird es von dem EU-Nothilfefonds für Afrika; wie viel Geld genau reingesteckt wird, wurde aber auf Anfrage nicht gesagt. Damals gingen Horrorberichte über die schlimmen Zustände in den Lagern in Libyen um die Welt. Flüchtlinge und andere Migranten, die aus afrikanischen und arabischen Ländern nach Libyen gereist waren, um auf Booten nach Europa zu gelangen, wurden von Schmugglern gefoltert, ausgehungert, um Geld erpresst oder als Sklaven verkauft.

Der Prozess ist gespickt mit bürokratischen Hürden

Doch das Programm («Emergency Transit Mechanism») geht nur schleppend voran. Bislang wurden dem UNHCR zufolge 2911 Menschen aus Libyen in das Nachbarland Niger gebracht, 1429 davon wurden weiter umgesiedelt. Denn die Aufnahme der Menschen basiert auf freiwilliger Basis. Nur die USA und Kanada sowie neun europäische Länder haben sich dazu bereiterklärt, darunter Deutschland. Und sie können selber entscheiden, wie viele Menschen und wer genau umgesiedelt wird. «Wir sind mit den Umsiedlungsländern im Dialog und sie haben das letzte Wort», sagt Alessandra Morelli, die UNHCR-Chefin im Niger.

Wie vielen Migranten diese elf Länder insgesamt versprochen haben, sie aufzunehmen, will das UNHCR nicht sagen. Doch die Bundesrepublik hat eine Aufnahme von bis zu 600 Flüchtlingen zugesagt - davon wurden laut Bundesinnenministerium bislang 276 Menschen nach Deutschland gebracht. Das wirkt wie ein Tropfen auf dem heißen Stein: Insgesamt sind beim UNHCR nach dessen Angaben über 57 000 Asylsuchende und Flüchtlinge in Libyen registriert. Das Programm habe zwar etlichen Menschen geholfen, Missbrauch in Libyen zu entkommen, sagt Judith Sunderland von Human Rights Watch (HRW). «Aber im Vergleich zu dem, was benötigt wird, sind die Zahlen sehr niedrig.»

Zudem ist der Prozess langwierig und gespickt mit bürokratischen Hürden. Nachdem die Menschen im Niger angekommen sind, werden sie mit Fingerabdruck registriert und müssen sich Sicherheitschecks unterziehen. Danach werden sie in Listen aufgenommen, die zu den Drittländern geschickt werden. Diese führen dann Interviews durch und entscheiden, wer aufgenommen und wer abgelehnt wird.«Das Verfahren muss beschleunigt werden», sagt UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami.

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 Übersicht zum Umsiedlungsprogramm "Emergency Transit Mechanism": Umsiedlungen von Libyen nach Niger und sichere Länder

«Ein Großteil der Menschen wurde gefoltert»

So bleibt Jamila und den anderen rund 1400 Migranten, die aus Libyen gerettet wurden, nichts anderes übrig als zu warten. Viele von ihnen leben in dem Transitzentrum in Hamdallaye rund 40 Kilometer von Niamey entfernt. «Was mache ich den ganzen Tag? Ich stehe auf, esse mit meiner Frau und warte», sagt Ahmed aus Äthiopien. Er wollte aus Angst nicht seinen Nachnamen nennen. Ebenso der 20-jährige Biniam aus Eritrea. Er ist nach eigenen Angaben für eine Umsiedlung nach Frankreich vorgesehen, doch ihm fehlen noch bestimmte Unterlagen. «Wann diese ankommen, weiß ich nicht.» Einige der Migranten warten dem UNHCR zufolge seit mehr als einem Jahr.

Es ist trocken und extrem heiß, die Landschaft karg und trostlos. Die Flüchtlinge wohnen in einfachen Container-Häusern und werden mit Lebensmitteln versorgt, kochen dürfen sie wegen der Brandgefahr nicht selber. Das Zentrum können sie verlassen, doch drumherum ist wenig, was sie hinauszieht. Die Menschen sind in Sicherheit - doch sie haben nur wenig Ablenkung von den traumatischen Erinnerungen an Libyen.

«Ein Großteil der Menschen wurde gefoltert oder hat schreckliche Dinge mitansehen müssen, zum Beispiel Tötungen», erklärt Zakara Oumarou, eine Ärztin einer örtlichen Organisation, Action Pour le Bien Être, die in dem Transitzentrum Hilfe leistet. «Nach der Rettung aus Libyen brauchen sie medizinische und psychologische Hilfe.»

Die Lage für Migranten wird immer schwieriger

Während sich die Aufnahme der Menschen hinzieht, trägt das Gastgeberland die größte Bürde. «Der Niger ist das einzige Land, das sich bereiterklärt hat, als Transitland zu agieren», sagt Morelli. Zudem hat der Staat - das wohl wichtigste Transitland für Migranten in Richtung Europa - auf Druck und durch Unterstützung der EU viel dafür getan, die Migration einzudämmen. Dabei hat der Niger genug eigene Probleme. Er ist einem UN-Index zufolge das ärmste Land der Welt. In den wüstenhaften Weiten sind kriminelle Schmugglerbanden unterwegs, und islamistische Extremisten terrorisieren die Bevölkerung. Rund 175 000 Menschen sind dem UNHCR zufolge innerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht. Und aus Mali und Nigeria hat der Staat demnach etwa 194 000 Flüchtlinge aufgenommen.

Die Regierung des Nigers hat bereits ihren Unmut über den Mangel an Hilfe aus Europa ausgedrückt. Wenn man bedenke, wie sehr der Niger dabei geholfen habe, die Flüchtlingsströme zu reduzieren, habe das Land nicht substanziell profitiert, sagte Innenminister Mohamed Bazoum in einem Interview der «Welt» im Mai. Einige Anstrengungen seien von Deutschland und anderen EU-Ländern unternommen worden. «Dies ist jedoch aus unserer Sicht völlig unzureichend.»

Und die Lage für die Migranten wird immer brenzliger. Der Bürgerkrieg in Libyen heizt sich auf. Seit Monaten wird um die Hauptstadt Tripolis gekämpft, was die Situation für Migranten nur weiter verschlechtert. In Lagern in dem Land sind derzeit rund 4000 weitere Menschen für die Rettung in den Niger und dann die Umsiedlung vorgesehen. Doch sie sitzen fest - bis die Migranten, die im Niger, sind, in ihre neue Heimat aufbrechen und Plätze frei werden.

Von Irene Savio, dpa

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