Das Café «Engel» an der Aleksanterinkatu in Helsinki ist 1685 Kilometer vom Sitz der EU-Kommission entfernt. Luftlinie. Mit dem Auto sind es von Belgien über die Niederlande, Deutschland, Polen, Litauen, Lettland und Estland 2355 Kilometer. Weiter weg vom Herz der EU in Brüssel geht kaum. Lotta Backlund hat das «Engel» vorgeschlagen für unseren «Kaffee mit Europa». Es ist wenig los um halb neun in der Früh, sogar an den großen Fenstern mit Blick auf den Dom ist noch Platz. Backlund bestellt einen Kaffee mit Milch.

Es ist der Tag, nachdem die Europäische Volkspartei, kurz EVP, in der finnischen Hauptstadt den Deutschen Manfred Weber zum Spitzenkandidaten für die Europawahl im Mai gekürt hat. «Ganz Europa schaut heute auf uns», hat Weber gesagt und dass er ab Herbst als neuer Präsident der EU-Kommission «Europa den Bürgern zurückgeben» will.

Die erste Frage an die EU-Bürgerin Lotta Backlund liegt deshalb nahe: Wie finden Sie Manfred Weber? «Ich kenne ihn gar nicht», sagt Backlund. Wissen Bürger überhaupt, was ein Kommissionspräsident tut? «Nicht so konkret», gesteht Backlund. «Das ist doch sehr abstrakt.»

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Umfrage: Vertrauen in die EU (Eurobarometer Nov 2018)

Die Europäische Union und ihre Bürger - drei Monate vor der Abstimmung über ein neues Parlament ist das eine schwierige Geschichte. In fast allen der - derzeit noch 28 - Länder der Union geben Populisten die großen Volksversteher. Sie wettern gegen Brüssel und gegen die sogenannten Eurokraten. Die reagieren verschreckt. Furchtsam fahren Profi-Europäer das Hörrohr aus zum Puls der Wählerinnen und Wähler. Warum sind sie so zornig? Was wünschen sie?

Denn es ist doch so: Wer nach Brüssel kommt, wundert sich über die vielen Eigenarten dieser sperrigen Union, über die undurchsichtige Maschinerie und unendliche Prozesse. Und wer sich nicht mehr wundert, wird plötzlich unsicher über das Leben da draußen jenseits der Gipfel, Glaspaläste und Generaldirektionen. Was verstehen die Europäer von «Brüssel»? Und was erwarten sie von der «Schicksalswahl» im Mai? Das ist der Ausgangspunkt dieser Besuche in entlegenen Winkeln des Kontinents, auf einen «Kaffee mit Europa».

Die Finnin: Zwei Parlamentssitze sind dumm

Lotta Backlund, 38, ist TV-Produzentin und Mutter einer neunjährigen Tochter. Der Kontakt kam über eine finnische Bekannte zustande. Früher tourte Lotta als Stand-up-Comedian durchs Land. Die lebhafte Frau spricht perfektes Amerikanisch - dank der in Finnland nicht synchronisierten Serien, wie sie sagt. Sie ist als frühere Mitarbeiterin des Bürgermeisters von Helsinki politisch versiert. Doch die EU ist auch für sie sehr weit weg.

«Ich weiß, dass die EU viel kommuniziert, und es gibt so viele Informationen. Aber ich glaube, das kommt nicht bei den Leuten an», sagt Backlund. Umso hartnäckiger seien die Legenden, etwa über den angeblich vorgeschriebenen Krümmungsgrad der Gurken. Auch Lotta weiß sofort, was sie an der EU nervt: «Ich finde es das Dümmste der Welt, zwei Parlamentssitze zu haben.» Neben Brüssel auch Straßburg.

Aber das heißt alles nicht, dass sie an Europa zweifelt, im Gegenteil. Den Euro - mit dem die Menschen in 19 Ländern bezahlen - findet die Finnin gut. Nationalismus stört sie. Sie will, dass die EU enger zusammenwächst, zu einer Art Vereinigte Staaten von Europa. «Das wäre sinnvoller», meint sie.

Aber läuft nicht alles gerade in die andere Richtung? Müssen wir nicht eher fürchten, dass die EU auseinanderfällt? «Ich hoffe nicht.» Backlund denkt einen Moment nach. «Ich glaube nicht, dass sie jemals auseinanderfällt. Es gibt so viele starke Einflüsse, die das nicht wollen.»

Lotta Backlund muss los. Sie verabschiedet sich fröhlich ins Nebelgrau der finnischen Hauptstadt. Zurück bleibt das Gefühl, dass Europa wohl doch so bald nicht untergeht. Aber auch die Ahnung, dass diese Frau nicht unbedingt repräsentativ ist.

Im Eurobarometer vom November 2018 sagten nur 43 Prozent der Befragten, sie hätten ein positives Bild der EU. 42 Prozent vertrauen der Union, während 48 Prozent eher kein Vertrauen haben. Nur 16 Prozent plädieren wie Backlund für eine «richtige Regierung der gesamten Europäischen Union». Nach Projektionen zur Europawahl könnten rechtspopulistische, EU-kritische Parteien im Mai 20 bis 25 Prozent der Sitze im nächsten Europaparlament bekommen - Parteien wie die AfD, die einen Radikalumbau der EU wollen oder sogar ihr Ende.

Die EU-Skeptiker

Finnland hat eine solche Partei schon seit 1995. Früher nannten sie sich die Wahren Finnen, heute einfach Finnen. Bei der Europawahl 2014 holten sie knapp 13 Prozent der Stimmen. Vielleicht sollte man lieber sie fragen, warum das alles so schwierig ist mit der EU?

Die Parteizentrale ist nicht weit vom Café «Engel», zu Fuß zehn Minuten. Sie liegt im Obergeschoss eines Klinkerbaus in einer Seitenstraße. Im Erdgeschoss ein «Gentleman's Club», im Nachbarhaus ein Falafelstand. Die Büros der Finnen-Partei sind weitgehend verlassen an diesem Freitagmorgen, auch Parteichef Jussi Halla-aho ist mit dem Fahrrad los zum nächsten Termin.

Zeit nimmt sich aber sein Bürochef Kai Järvikare, viel Zeit. Der rundliche Herr ist zuvorkommend und freundlich. «Mit Politik habe ich nichts zu tun», sagt er. Er sei Verwaltungsmann. Stolz führt er durch die Räume.

Ganz hinten neben dem leeren Chefzimmer liegt das ebenfalls verwaiste Büro von Matti Putkonen, genannt «der Arbeiter». Seine Karriere startete er als Gewerkschafter und Sozialdemokrat, heute ist er eine Art Sprachrohr der finnischen Wutbürger. In der Parteizentrale produziert er regelmäßig Videos für den Youtube-Kanal der Finnen. Das geht erstaunlich simpel in einem winzigen Studio am anderen Ende des Gangs. Auf grüne Laken werden schicke Hintergründe projiziert, so dass die Videos fast wirken wie professionelles Fernsehen.

Järvikare führt weiter, vorbei an der Raucherkabine, in der «Matti der Arbeiter» eine alte Reklame für filterlose North-Star-Zigaretten aufgehängt hat. Dann geht es rechts den Gang hinunter. Und dort findet sich doch noch jemand, der an diesem Freitag Politik macht.

Die scheidende Generalsekretärin der Jugendorganisation der Finnen, Marika Sorja, entschuldigt sich für das Durcheinander in ihrem Büro. Auf dem Boden liegen Wahlplakate und Kisten. Aus Regalen quellen Parteiwimpel, Finnlandflaggen, Sweatshirts und Mützen. «MAKE FINLAND GREAT AGAIN», prangt da auf blauem Grund.

Die Jugendorganisation sei noch EU-skeptischer als die Partei, sagt Sorja und plädiert ohne Zögern für den «Fixit»: den EU-Austritt ihres Landes. Mehr noch: «Ich glaube, die EU sollte zusammenbrechen.» Zumindest in ihrer jetzigen Form. Wenn man sich auf die Ursprünge besinnen würde, Handel, Sicherung der Außengrenzen, Verteidigung, dann wäre das etwas anderes. Aber so?

Brüssel sei so weit entfernt von den Menschen und entscheide über die Köpfe der Nationalstaaten hinweg, ob nun bei der Verteilung von Migranten oder bei den Krediten für Griechenland. «Viele Bürger und sogar Leute, die sich mit Politik auskennen, verstehen nicht, was in der EU passiert», meint die blonde Frau Anfang 30.

Da ist es wieder: das verworrene, undurchsichtige Brüssel. So unterschiedlich Lotta Backlund und Marika Sorja sein mögen, so gegensätzlich ihr Blick auf dieses Europa: An diesem einen Punkt treffen sie sich.

Der EU-Erklärer in Brüssel

Schmerzen muss das einen anderen Finnen, Timo Pesonen. In Brüssel war er die vergangenen Jahre so etwas wie der Ober-Erklärer der Union - der Generaldirektor der Generaldirektion Kommunikation der EU-Kommission. Unter ihm arbeiten 1000 Leute daran, den 500 Millionen Europäern ihre Gemeinschaft nahe zu bringen. 2017 kostete das 122 663 217,52 Euro, so steht es im Jahresbericht.

Zu Pesonens Eckbüro im zweiten Stock der Kommissionszentrale Berlaymont führen verwinkelte Gänge, gesäumt von vergilbten Kunststoffverkleidungen. Pesonen ist ein ruhiger Mann Ende 50, der genauso lange für die EU in Brüssel streitet wie die Wahren Finnen sie bekämpfen: seit 1995. Den Kaffee hat er vor Jahren aufgegeben, als er Probleme mit dem Magen bekam. 15 Tassen pro Tag waren zu viel. Er trinkt Tee. Also auf einen «Tee mit Europa».

122 Millionen Euro - was machen Sie denn mit dem ganzen Geld? Pesonen stutzt, dann zählt er auf: Am teuersten sind die Vertretungen der Kommission in den EU-Ländern, die Mitarbeiter, die Immobilien. Dann natürlich die Publikationen und Übersetzungen, der audiovisuelle Dienst, der Pressesprecherservice, die Medien-Auswertung, die Social-Media-Teams, die Webseiten, das Besucherzentrum mit jährlich 50 000 Interessierten. Dazu kommen die Selbstdarstellungs- und Themenkampagnen. Und schließlich die Bürgerdialoge. 1200 waren es seit 2014 nach Kommissionsangaben. 160 000 Europäer kamen.

Diese Diskussionen mit richtigen Menschen sind für die Kommission ein Riesending. In Frankreich setzt Präsident Emmanuel Macron aufs gleiche Rezept mit seiner «großen nationalen Debatte». Der dortige Aufstand der Gelbwesten überraschte vielleicht ähnlich wie 2016 die Brexit-Entscheidung der Briten. Die Bürger verstehen die Politik nicht mehr - und umgekehrt: Die Volksvertreter rätseln über das Volk.

Der ganze Hass, die Häme, die Attacken gegen die Eliten irritieren nicht nur die Amtsinhaber, sie rütteln am System, das darauf ruht, dass das Wahlvolk Politikerinnen und Politikern das Politikmachen anvertrauen: Mach du das mal, du verstehst etwas davon. Stattdessen nun die Unterstellung, dass sich angebliche Vollpfosten in Brüssel und Berlin aus Bosheit oder Unverstand immer neuen Unsinn ausdenken.

Riesen-Problem: Unverständliche Sprache

Pesonen weiß das. «Bei einer Veranstaltung fragte mich jemand sarkastisch: "Wenn Sie morgens in Ihr Büro gehen, ins Berlaymont, in dieses nette Gebäude, denken Sie dann wirklich, dass Sie für Frieden und Stabilität arbeiten?" Und ich sagte, tja, ehrlich gesagt: "Ja, das denke ich tatsächlich ziemlich oft."» Nicht immer, das weiß Pesonen, kann man das vermitteln.

Das größte Problem sei die Sprache, sagt der Finne, und meint nicht die 24 Amtssprachen der EU, sondern das Kauderwelsch der Abkürzungen und Codeworte - Coreper, Trilog, PRIIP, PEPP, PAFF. «Wir leben in einem Silo, wenn man das so nennen möchte», sagt er. «Und selbst die gesprochene Sprache, die wir und unsere Politiker nutzen, ist nicht so, wie Leute wirklich reden.» Die Fachwörter, das Spezialwissen: «Donald Trump macht das nicht: Er hat eine klare Message.»

Auch die europäischen Populisten malen die Welt großzügig in Schwarz und Weiß. Ihre Tweets landen auf Millionen Handys direkt neben dem Kopfkissen. Mit simplen Mitteln werden Botschaften gesetzt - von Matti dem Arbeiter in seinem improvisierten Studio in Helsinki, von anderen Politikern, von Bots - also Maschinen - und Trollfabriken. Das EU-Megafon der Spezialisten in Brüssel ruft von sehr weit her dagegen an. Trotz der 122 Millionen: Es scheint ein ungleicher Kampf.

Die Portugiesinnen: Wenig Interesse

Von Pesonens Büro in der EU-Kommission bis zur Pastelaria «O Catarino» an der Avenida 5 de Outubro in Lissabon sind es 1707 Kilometer. Luftlinie. Zu weit wohl für die frohe Kunde aus Brüssel über die Segnungen der Union. Hinter dem gläsernen Tresen mit Teigtaschen, Krapfen und Hefegebäck steht Maria Martius, die das Café mit ihrem Mann betreibt. Die Portugiesin plaudert aufgeräumt mit den Leuten aus der Nachbarschaft, die süße Teilchen kaufen oder Marias zimtigen Cappuccino trinken. Aber bei einem Kaffee über Europa sprechen? Maria versteht nicht ganz.

Es ist der Tag, bevor die Europäischen Sozialdemokraten in Lissabon ihren Spitzenkandidaten für die Europawahl küren: den Niederländer Frans Timmermans, seit vier Jahren Vizepräsident der EU-Kommission. Timmermans hat die Abstimmung im Mai zum «Kampf um die Seele Europas» erklärt, er verspricht einen «Sozialpakt für alle Europäer». Maria rätselt. Ihr Englisch sei nicht so gut, sagt sie. Sie verschwindet kurz: Ihre Nachbarin, die kenne sich mit sowas aus.

Die Nachbarin heißt Joana Pires, ist 21 und macht im Friseursalon nebenan eine Lehre. Die erste Kundin kommt in zehn Minuten. So lange haben wir Zeit.

In ein paar Monaten sind Europawahlen, haben Sie schon davon gehört? «Nein, tut mir leid, aber ich habe kein Fernsehen zu Hause», sagt die freundliche junge Frau in melodischem Englisch. Ein paar Schlagzeilen bekomme sie per App auf ihr Telefon. Aber generell seien die Nachrichten in Portugal ohnehin nur Mord und Totschlag und Katastrophen. «Ich habe keine Zeit, mir Katastrophen anzuschauen oder anzuhören, ich will doch glücklich sein», lacht Joana.

Kennen Sie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker? Sie schüttelt bedauernd den Kopf. Ist Ihnen Europa wichtig? «Natürlich», da zögert Joana Pires keine Sekunde. Sie will reisen. In Frankreich und Italien war sie schon. In einem Museum in Paris hatte sie freien Eintritt, das rechnet sie Europa hoch an. Ihr Großvater habe zwar geschimpft, die Sache mit dem Euro sei für Portugal sehr teuer gewesen und habe die Wirtschaft ruiniert. Joana findet das aber nicht.

«Ich glaube, dass es gut ist, ein europäisches Land zu sein.» In der Schule höre man auch einiges über die EU, aber eben danach nicht mehr. Man könnte sicher recherchieren, aber dazu hätten die Leute keine Zeit oder keine Lust. Joana denkt einen Moment nach.

«Wissen Sie», sagt sie dann und greift überraschend weit zurück ins kulturelle Erbe ihres Landes Anfang des 20. Jahrhunderts, «wir haben in Portugal einen sehr bekannten Dichter, Fernando Pessoa, kennen Sie den? Fernando Pessoa sagte: Wenn du nicht zu viel weißt, bist du glücklicher.» Genauso hält es Joana mit der Europäischen Union.

Von Verena Schmitt-Roschmann

 

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