Berlin – Es ist kurz vor zwölf. Minutenlang sitzt Angela Merkel allein auf der violetten Regierungsbank. Nur ein Mal in vier Jahren gibt es dieses Motiv. Die 63-Jährige ist schon zur Kanzlerin gewählt, ernannt, aber noch nicht vereidigt. Dann nimmt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ihr am Mittwoch im Bundestag den Amtseid ab – hinter der Kanzlerin die große Deutschlandfahne. Merkel verspricht, ihre ganze Kraft zum Wohle des Volkes einzusetzen, gefolgt von den Worten: «So wahr mir Gott helfe.»

Die Szene wirkt feierlich – und Merkel nach den turbulenten sechs Monaten der Regierungsbildung irgendwie erleichtert. Auch das Ergebnis der Wahl – nur neun Stinmen mehr als unbedingt erforderlich – trübt die Stimmung jetzt kaum. Schäuble, der ihr Vorgänger als CDU-Chef war und in seiner Zeit als Finanzminister der Kanzlerin das Leben nicht immer nur leichter gemacht hat, fügt an, er wolle ihr «alle guten Wünsche auf Ihren schweren Weg mitgeben». Wie er das meint, darüber kann spekuliert werden.

Ein besonderer Tag für die Kanzlerin

Nach Routine ist Merkel auch bei ihrer vierten Wahl zur Kanzlerin von Anfang an nicht zu Mute. Immer wieder dreht sich die CDU-Vorsitzende von ihrem Platz in der ersten Reihe um, schaut nach hinten. Ihr Blick wandert durch die Reihen der Unionsabgeordneten. Oft sucht sie den Augenkontakt mit ihrer Familie, die rund um ihren Ehemann Joachim Sauer auf der Ehrentribüne in der ersten Reihe sitzt.

Auch eine so erfahrene und oft nüchterne Frau wie Merkel zeigt an diesem Tag Gefühl. Kein Wunder, nach fast sechs Monaten kräftezehrender, quälender Regierungsbildung, bei der das politische Schicksal der als mächtigste Frau der Welt gerühmten Kanzlerin gleich mehrmals auf der Kippe stand.

Dass dieser Tag für Merkel etwas ganz Besonderes ist, zeigen auch die Gäste, die sie eingeladen hat. Ihr Ehemann sitzt zum ersten Mal bei einer ihrer Kanzlerinnen-Wahlen auf der Ehrentribüne – den drei früheren 2005, 2009 und 2013 war er fern geblieben. Nun, wo seine Frau wahrscheinlich zum letzten Mal angetreten ist, hat der 68-Jährige sich anders entschieden – und auch seinen Sohn Daniel aus erster Ehe mitgebracht.

Merkels Mutter Herlind Kasner ist ebenfalls wieder gekommen – wie immer, wenn ihre Tochter zur Regierungschefin gewählt wird. Die 89-Jährige wird von einem Freund der Familie, dem früheren Bildungsminister von Brandenburg, Roland Resch (Grüne), zum Sitzplatz geleitet. In der Pause, als gerade die Stimmen ausgezählt werden, geht sie einen Schluck Wasser zur Erfrischung trinken. «Damit wir für gleich fit sind», sagt Herlind Kasner. Und fragt Resch neugierig: «Zählen die eigentlich per Hand aus?»

Kein Kommentar vom Ehemann

Um 9.24 Uhr stellt sich Merkel kurz zu ihrem SPD-Herausforderer bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr, Martin Schulz. Er ist gerade zur Stimmabgabe aufgerufen worden. Schulz lächelt Merkel an, legt kurz die linke Hand auf ihren Rücken. Die Szene wirkt fast vertraut – obwohl Schulz die Kanzlerin im Wahlkampf so verbissen bekämpft hat und zuletzt im Finale der Koalitionsverhandlungen mehr als 24 Stunden so erbittert mit ihr um Ministerien und Posten gerungen hat. Schulz, der diese dritte große Koalition Merkels noch als SPD-Chef mit zusammengezimmert hat, dann aber wegen internen Widerstands zurücktrat und auch auf das Amt des Außenministers verzichtete, ist nach einer schweren Grippe erstmals zurück im Bundestag.

Joachim Sauer hat zu dieser Zeit seinen Laptop aufgeklappt und vertreibt sich seine Zeit am Computer. Ob er die Pause bis zur Verkündung des Ergebnisses für seine Frau wohl für wissenschaftliche Arbeit nutzt? Später plaudert er mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, den Laptop immer noch auf den Knien.

Als seine Frau gerade wiedergewählt ist, trifft Professor Sauer auf den früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Dieser klopft ihm auf die Schulter und sagt: «Alles Gute» und gratuliert. Auf die Reporterfrage, ob er die Wahl seiner Ehefrau kommentieren wolle, meint Sauer nur trocken: «Ich sage wie immer nichts.»

Bemerkenswerte Szenen

Unten im Saal haben sich schon vor der Sitzungseröffnung durch Schäuble um 9.00 Uhr bemerkenswerte Szenen abgespielt. Merkel, die im cremefarbenen Blazer mit schwarzer Hose erschienen ist, amüsiert sich gut in einer kleinen Frauenrunde mit ihrer alten und neuen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sowie Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Ex-Grünen-Chefin Claudia Roth. Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki von der FDP bekommt ein Lächeln geschenkt.

Nach dem Zählappell bei der SPD am frühen Morgen vor der Sitzung hatten einige Sozialdemokratinnen schon im Aufzug hinunter zum Plenarsaal getuschelt, die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer habe ja ein komplett grünes Kleid an. Merkel habe am Vortag auch etwas Grünes getragen, bemerkt eine andere SPD-Abgeordnete – was das wohl bedeute? Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kanzlerin auch gerne mit den Grünen regiert hätte.

Als man beim Namensaufruf zur Wahl gerade beim Buchstaben H ist, kommt Merkels Ex-Außenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel dazu. Sie gibt ihm die Hand, beide wechseln ein paar Worte.

Ernüchterung nach der Abstimmung

Der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz, Merkels neuer Vizekanzler, lässt sich derweil auf der Tribüne von Franziska Giffey (Familie, SPD), Julia Klöckner (Agrar, CDU) und Svenja Schulze (Umwelt, SPD) in die Mitte nehmen. Sie dürfen nicht im Plenarsaal sitzen, weil sie nicht Bundestagsabgeordnete sind. Alle drei Frauen sind in sattblauen Kostümen gekommen, Arm in Arm mit Scholz stehen sie da. Etwas ungeduldig nestelt Scholz an seiner Krawatte, auf seinem Platz hält es ihn nicht. Lieber redet er länger und sehr ersthaft mit Kramp-Karrenbauer, der neuen CDU-Parteimanagerin.

Als Schäuble dann um 9.52 Uhr das Ergebnis für Merkel verkündet, macht sich Ernüchterung breit. 364 Abgeordnete haben für sie gestimmt – das sind 35 weniger, als Union und SPD eigentlich gemeinsam haben, nämlich 399. Wie viele Abgeordnete der Koalition letztlich tatsächlich nicht für Merkel gestimmt haben, dürfte im Dunkeln bleiben: Die Wahl war geheim. Bei der Union, die über 246 Sitze im Parlament verfügt, fehlte ein Abgeordneter wegen einer Lungenentzündung, die 153 SPD-Abgeordneten waren alle anwesend.

Mahnende Worte vom Bundespräsidenten

Genau um 10.59 Uhr überreicht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerin im Schloss Bellevue die Ernennungsurkunde. Davor spricht er ein paar Minuten unter vier Augen mit ihr. Die beiden kennen sich gut. Möglich, dass dabei das knappe Wahlergebnis zur Sprache kam. In seiner Rede bei der Ernennung der 15 Ministerinnen und Minister eineinhalb Stunden später geht der Bundespräsident darauf natürlich nicht ein. Das hätte die positive Stimmung nur trüben können, die er, als einer der Architekten der neuen großen Koalition, an diesem Tag empfand.

Steinmeier hatte die SPD in Richtung Neuauflage der großen Koalition gedrängt – und dies in seiner Ansprache noch einmal gerechtfertigt. «Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, wird ein schlichter Neuaufguss des Alten nicht genügen», sagte er. «Diese Regierung muss sich neu und anders bewähren.» Das kann man nur als Mahnung verstehen.

«Ganz vernünftiges Ergebnis»

Trotz der ziemlich großen Zahl fehlender Stimmen für Merkel spricht man in der Union von einem «ganz vernünftigen Ergebnis», vor allem angesichts der schwierigen Regierungsbildung. Doch natürlich ist es nach den schweren Verlusten der Union bei der Wahl und der internen Kritik an Merkels Wahlkampf ein Signal, wenn dutzende Abgeordnete aus den eigenen Reihen der Kanzlerin die Stimme verweigern.

Als Schäuble die Zahl der Ja-Stimmen nennt, bleibt Merkel zunächst sitzen, nickt einmal auf ihre typische Art heftig mit dem Kopf. Ich habe verstanden, könnte das heißen. Die Unionsfraktion steht geschlossen auf und applaudiert, nicht euphorisch, aber auch nicht kurz. Bei der SPD bleiben sie sitzen, viele klatschen, darunter der unterlegene Schulz, aber längst nicht alle.

Gratulation aus allen Fraktionen

Als erster überreicht dann Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) der Kanzlerin einen Blumenstrauß, kurz darauf gratuliert kurz auch SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Länger bei Merkel bleiben Göring-Eckardt und FDP-Chef Christian Lindner stehen. Mit beiden hätte Merkel nach der Bundestagswahl gerne die erste Jamaika-Koalition im Bund geschmiedet – doch nach wochenlangen Sondierungen hatte Lindner die Verhandlungen platzen lassen.

Irgendwann später reihen sich auch die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel in die Reihe der Gratulanten ein. Fast ohne Blickkontakt reichen sie der Kanzlerin die Hand. Frauke Petry, die mittlerweile fraktionslose frühere AfD-Chefin, schenkt Merkel ein Buch. Die Kanzlerin kann das als vergiftetes Geschenk werten: Es ist das Buch «Höhenrausch – die wirklichkeitsleere Welt der Politiker» des Journalisten Jürgen Leinemann.

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